„Wir stehen am Vorabend einer Revolution“, diese Überzeugung vertritt Jean Ziegler gegenüber der Schweizer Wochenzeitschrift woz.
Der 77-jährige Jean Ziegler hört das Gras wachsen, eine Fähigkeit, die nach Karl Marx allen Revolutionär_innen eigen sein muss.
Ziegler beobachtet das Entstehen von „etwas radikal Neuem“ nach dem in den letzten Dekaden sich die Arbeiter_innen des Klassenbewusstseins entledigt haben und revolutionäre Organisationen zu Sekten mutierten. „Wir befinden uns an der Schwelle zu einem Aufstand des Gewissens. Was heute wirkt, ist der kategorische Imperativ. Immanuel Kant sagte, die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir.“ Ziegler argumentiert mit seinen Erfahrungen bei den Heiligendamm-Protesten: „Die Staatschefs hatten sich hinter Stacheldraht versteckt. Draußen protestierten Lehrer_innen, Pfarrer, Lehrlinge und so weiter. Ihr Motor war kein Zentralkomitee, keine kohärente Ideologie, kein Parteiprogramm. Der einzige Motor war der kategorische Imperativ: Wir wollen die kannibalistische Weltordnung nicht mehr.“
Auch die Revolutionär_innen von 1789 planten nicht die Revolution, als sie sagten: „Gopferteckel, jetzt befreien wir unsere Copains aus dem Kerker, sie haben Familie und Kinder, die sie ernähren müssen“, bevor sie die Bastille stürmten. „Der revolutionäre Prozess ist die Befreiuung der Freiheit im Menschen, wie Sartre schreibt. Was der Mensch mit dieser Freiheit individuell und kollektiv anstellt, ist unvorhersehbar. Freiheit hat eine eigene Dynamik. Dass der französische König hingerichte wurde, dass die Republik erfunden wurde und so weiter, das konnten die Revolutionär_innen nicht wissen. Klar ist, dass der Wille zur Freiheit konstitutiv ist wie das Essen, die Liebe, der Sexualtrieb. Die Menschen lassen sich nicht ewig unterdrücken. Sie sprengen die Ketten. Heute bilden eine vitale Zivilgesellschaft, die Frauenbewegung, die Landlosenbewegung, Attac, Via Campesina das revolutionäre Potenzial – das ist radikal neu, schreibt das auf! Ich bin überzeugt, wir stehen am Vorabend einer Revolution, der Aufstand des Gewissens kommt.“
Den Dialog mit den Mächtigen lehnt der unbeugsame Ziegler rundweg ab. Wozu sich selbst entwaffnen? Stattdessen Radikalkritik üben und die kannibalistische Weltordnung mit demokratischen Mitteln stürzen. Die Waffenarsenale stehen nach Ziegler in den ungelebten Verfassungen der demokratischen Staaten. Abgeordnete wählen, die nicht Parteieninteressen vertreten, sondern die Interessen der Wähler_innen. Auch könnte man „die Spekulation auf Agrarrohstoffe und Agrardumping der EU in Afrika sofort verbieten. Dann müsste die afrikanischen Bäuer_innen nicht gegen Billigimporte konkurrieren und könnten ihre Familien ernähren. Dann würde der Strom der Hunger- und Wirtschaftsflüchtlinge abreissen. Diese Menschen, die Tausende Kilometer auf offenem Meer zu den kanarischen Inseln zurücklegen, würden nicht mehr in den Fluten des Atlantiks ertrinken.“
Die woz fragt nach: Sie sprechen von Waffen, die bereitliegen. Weshalb holt die Schweizer Linke sie nicht hervor?
Ziegler: „Die Schweizer Linke liegt im Koma. Sie sollte in die Opposition gehen, raus aus dem Bundesrat (Anm.: Regierung), weg von dieser Dialog- und Konsenspolitik. In diesem Land halten die Steuerzahler_innen die Banken aus, in Genf geht die Hälfte des Lohns für die Miete drauf, wenn du überhaupt eine Wohnung findest. Die Linke sollte den Generalstreik anvisieren.“
Am besten ein europäischer Generalstreik am 15. Oktober, statt ineffizienten Standkundgebungen…
Dieses spannende Interview kann in der aktuellen Ausgabe der woz – Die Wochenzeitung nachgelesen werden.