Volxkino heute in Ottakring: Mein Haus stand in Sulukule, ein Film von Astrid Heubrandtner.
Was Gentrifizierung alles leisten kann: Nicht nur Immobilienspekulation, sondern sogar die Vertreibung einer ungeliebten Gruppe von Menschen aus dem Zentrum von Istanbul.
Sulukule stand nicht nur für die weltweit älteste Romasiedlung, sondern auch für ein fröhliches und ausgelassenes Leben. Die Kneipen Sulukules waren Fixpunkt einer Istanbul-Reise für Tourist_innen aller Schattierungen und boten Nachtasyl für die Stadtbewohner_innen, denen die Nacht nicht lang genug und der Durst nicht klein genug sein konnte.
Anfang der 1990er-Jahre erstarkte die politisierte religiöse Bewegung in Istanbul und mit Hilfe polizeilicher Repression, wurde der Freiraum, den Sulukule anbot, immer stärker eingeschränkt. Sulukule sei ein Problemviertel, in dem Drogen, Sexarbeit und selbstverständlich Terrorismus ihr illegales Zuhause hätten. Zudem seien die Häuser, die sich die Roma in den letzten tausend Jahren gebaut haben, ohne behördliche Genehmigung errichtet worden.
Unterstützt durch den ökonomischen Aufschwung in der Megacity Istanbul erfand die Stadtregierung ein Entwicklungsprogramm, das den Schandfleck im Herzen der Stadt eliminieren sollte – und die Roma gleich mit. Ihnen wurden ihre Häuser abgepresst und danach um das Zehnfache an Spekulant_innen weiter verkauft. Wenn soviel Geld im Spiel ist, ist auch in Istanbul die Korruption nicht weit entfernt: Ein Gründungsmitglied der AKP in Fatih musste seine Funktionen wegen „unethischem Verhalten“ zurücklegen, kann im Istanbul-Reiseführer von Lonely Planet nachgelesen werden.
Möglicherweise handelte es sich nicht um Korruption, sondern um ein Geschenk Gottes. Der Bürgermeister von Fatih, Mustafa Demir, wurde Anfang 2008 noch so zitiert: „Der Umbau Sulukules ist das sozialste Projekt überhaupt, ein Geschenk Gottes.“
Mehr als dreitausend Roma verließen seitdem mehr oder weniger freiwillig ihr Viertel Richtung Peripherie, die Häuser wurden geschliffen und an ihrer Stelle Villen im neureichen ottomanischen Stil errichtet worden.
Das ist illegal, befand im Mai 2012 das Istanbuler Verwaltungsgericht. Es dürfen keine weiteren Villen gebaut werden und die bereits errichteten müssen abgerissen werden, berichtet hurriyetdailynews.com Das Verfahren, das von lokalen Architekt_innen und Romavereinigungen angestrengt wurde, nahm vier Jahre in Anspruch. Eine der Architekt_innen, Mücella Yapıcı, sagt nach dem Richter_innenspruch: „Wenn Recht zu spät kommt, ist es kein Recht.“
Aslı Kıyak İngin von der Human Settlements Association warnt im Istanbul-Lonely Planet: „Sulukule ist nicht die einzige Gegend in Istanbul, in der es solche Ungerechtigkeiten gibt. Ähnlichen Bedrohungen stehen die Einwohner_innen von Balat, Fener, Süleymaniye, Tarlabaşı gegenüber.“
Auch Gott verschenkt manchmal Dinge, über die sich niemand freuen mag.
Filmvorführung:
Mein Haus stand in Sulukule, ein Dokumentarfilm von Astrid Heubrandtner, heute am Ludo Hartmann-Platz in Ottakring, Beginn um 21.30 Uhr. Eintritt frei.
Links:
Aslı Kıyak İngin beim 6. Europäischen Sozialforum 2010 in Istanbul auf der Seite der Rosa Luxemburg-Stiftung.
Berichte im Guardian (2010) über die Gentrifizierung in Sulukule und im Spiegel (2008).
Lesen:
Virginia Maxwell, Istanbul, Verlag Lonely Planet, deutsche Ausgabe, 2010.