Es war einmal ein Flüchtling. Er behauptete, in seinem Land verfolgt zu werden, und sogar um sein Leben müsste er fürchten. In der Dorfgemeinschaft lebte er mit, ohne von ihr aufgesogen zu werden oder seine Identität zu verlieren. Mit seiner Lebensgefährtin engagierte er sich für Menschen mit ähnlichen Schicksalen. Für Leute, die aus verschiedenen niederträchtigen Motiven von der Obrigkeit verfolgt, ins Gefängnis geworfen oder von Ermordung bedroht waren.
Es kann angenommen werden, dass nicht wenige im Ort den Flüchtling und seine noch umtriebigere Freundin bewunderten. Und von einigen werden sie dafür auch gehasst worden sein.
Als irgendwann ein Haus in Brand geriet, war der Flüchtling sofort zur Stelle, reihte sich in die Löschkette ein und nahm stundenlang schwere Wassereimer und reichte sie an die neben im stehenden Personen weiter, bis das Brand-Aus-Zeichen erfolgte.
Das Zusammenleben im Dorf ging einige Zeit gut. Der sozialistische Bürgermeister Vincent Azéma gab ihnen sogar schriftlich, richtige Einheimische zu sein. Bis die herrschende politische Klasse beschloss, alle Ausländer_innen aus dem Land zu entfernen. Und so wurde dieses Unrecht von der örtlichen Behörde auch in diesem Ort exekutiert.
Unser Flüchtling wurde als „Ausländer“ von den Behörden identifiziert. Seine Außerlandesschaffung sollte seinen richtigen Gang nehmen. Als die Dorfgemeinschaft davon erfuhr, war die Empörung groß. Es war doch der Flüchtling, der stundenlang mit allen anderen in der Reihe stand und mithalf, den Brand zu löschen.
Wer denn hier Ausländer_in sei? Zwei weitere Frauen mit Einkaufsnetzen blieben stehen, und der alte Mann mit der blauen Mütze, der immer an unserer Ecke steht, humpelte herbei. Ausländer? Das sind doch unsere Nachbar_innen.
Schliesslich lenkte der Polizist ein: Seien Sie doch bitte vernünftig, der Herr und die Dame werden gleich wieder zurück sein, wir wollen nur mit ihnen sprechen.
Der Flüchtling hieß Hans Fittko, auf der Flucht vor den Nazis und dem kollaborierenden französischen Vichy-Regime. Mit seiner späteren Frau, der in Wien aufgewachsenen Lisa Fittko, rettete er zahlreichen Menschen das Leben, indem sie sie auf alten Schmugglerpfaden durch die Pyrenäen ins (scheinbar) sichere Spanien lotsten. Lisa Fittko knüpfte vor dem Eintreffen von Hans Kontakte, erkundete das Gelände und führte neben den vielen bekannten und der Nachwelt unbekannten Personen auch den marxistischen Theoretiker Walter Benjamin über die Grenze. Die Route Lister, benannt nach Enrique Lister, General der spanischen Republikanischen Armee, die ein Jahr davor vielen Flüchtlingen vor der Franco-Diktatur das Überleben in Frankreich sicherte, wurde nach dem bedingungslosen humanitären Einsatz von Lisa Fittko in F-Weg umbenannt.
Wer bergerfahrene Beine hat, kann den gut ausgeschilderten Weg nachlaufen. Man öffne in Banyuls-sur-mer die Augen nach dem „Chemin Walter Benjamin“.
Flucht ist nie ein Verbrechen.
Eine Beschreibung des „Chemin Walter Benjamin“ erscheint demnächst in diesem Theater.
Tipp & Hinweise:
Zitate nach: Lisa Fittko, Mein Weg über die Pyrenäen, Erinnerungen 1940/41, dtv München 2010.