Die Krise dauert ohne Aussicht auf ein Ende an. Und sie zielt unübersehbar von den Peripherien auf den Kern der geopolitischen Machtzentren. Wir müssen auf einiges gefasst sein.
„Es wird Blut fließen, mehr als das, viel Blut, das Leid der Menschen wird zunehmen.“ (Eric Hobsbawm 1917 – 2012)
2004 schrieben David Graeber, der es mit seinem Buch „Schulden. Die ersten 5000 Jahre“ in die europäischen Bestsellerlisten brachte, und der viel zu wenig bekannte Andrej Grubačić in ihrem Beitrag „Anarchism, Or The Revolutionary Movement Of The Twenty-first Century„, dass das Zeitalter der Revolution nicht vorüber ist. Und tatsächlich deutet einiges darauf hin.
Wenn im verhältnismäßig dünn besiedelten Griechenland vierzig Prozent der Krankenhäuser, die sich schon bisher durch äußerst miese Standards – wie keine Versorgung mit Bettzeug oder mit Mahlzeiten durch die Spitalsorganisation – „auszeichneten“, vor der Schliessung stehen oder aber wie in Irland oder Spanien die Intelligenzia in alte Auswanderungsgebiete wie Australien oder Lateinamerika emigriert, dann kann von Dimensionen der Krise ausgegangen werden, die denen der Krisen des vergangenen Jahrhunderts um nichts nachstehen.
Gesellschaften unter Belagerung
Was neben den sozialen Krisen, die die sozialdemokratische Schröder-Regierung in Deutschland mit ihrer asymmetrischen Umverteilungspolitik sprichwörtlich zur Marktreife brachte, noch zur endgültigen Zerrüttung der Gesellschaft fehlt, sind Massenaufstände und bürgerkriegsähnliche Unruhen. Wer nicht wegblicken möchte, erkennt, dass diese Erhebungen und Revolten an unser Haus klopfen. Die Bilder, die uns seit Monaten aus Griechenland oder eben Spanien erreichen, sprechen eine eindeutige, paramilitärische Sprache.
Es ist nicht nur so, dass die europäischen Eliten wie Regierungen auf nationalstaatlicher Ebene, oder dass Klassen wie der europäische Bluts- und/oder Industrie- und Finanzadel paralysiert dieser Situation gegenüberstehen, sondern egoismusgetrieben bereit sind, wieder einmal alles in Schutt und Asche zu legen.
„Keine Regierung weiß, was sie tun soll.“ (Eric Hobsbawm)
Wer mit Geschichte halbwegs vertraut ist, kann beurteilen, hier handelt es sich nicht um Fahrlässigkeit, sondern um bewusste Herbeiführung und Begünstigung zukünftiger Verbrechen gegen die Menschheit. Das tönt ungeheuer dramatisch, tatsächlich erleben wir dieses Drama täglich. Nicht in Europa, dafür seit Jahrzehnten an „Nebenschauplätzen“ wie im Mittleren Osten oder in Afrika.
40 Prozent der Weltbevölkerung leben von einem Dollar am Tag. Das ist doch keine Basis für eine stabile Gesellschaftsordnung. Die Krisen wurden am Rand immer größer und immer dramatischer. Bei uns im Zentrum kamen sie gelegentlich als Börsenkräche an, die bald wieder repariert waren, das Spiel konnte weitergehen. (Eric Hobsbawm)
Dass es sich hierbei um keine unzulässige Dramatisierung handelt, kann durch die verstärkt einsetzende staatliche Repression belegt werden. Jede Bürgerin, jeder Bürger ist heute unisono potenzielleR TerrorverdächtigeR. Wird dieser Vorwurf offensichtlich absurd, werden Oppositionellen vulgärkriminelle Vergehen angelastet.
Die Barbarei schreitet voran. Anerkannte Werte der Zivilisation werden plötzlich wieder aberkannt. (Eric Hobsbawm)
Die innere Militarisierung
In Deutschland soll das Militär künftig auch bei innerdeutschen Einsätzen eingesetzt werden können, im Schweizer Kanton Genf steht diese Änderung gerade zur Debatte und in Österreich wird eine Söldner_innenarmee „diskutiert“, ohne die Frage der demokratischen Kontrolle auch nur zu berühren. In Portugal schaltet sich das Militär in die politische Debatte ein.
Wozu braucht es das? Wer und warum? Mit welchem Ziel?
Ich vermisse eine grundlegende öffentliche Debatte. Die öffentliche Erregung soẃieso.
Alle sind wir die 50%-Selbstbetrug
Auch politische Systeme haben ein Ablaufdatum.
Auch der Kapitalismus, egal, wie zäh er ist und wie sehr er auch in den Köpfen der Menschen als etwas Unabänderliches erscheint, er wird verschwinden, früher oder später. (Eric Hobsbawm)
Im Idealfall sind Korrektive, wie zum Beispiel Wahlen, eingebaut, die den inneren Verfall, wenn nicht stoppen, so doch verlangsamen. Wird das politische System erfolgreich von einzelnen Interessengruppen unterwandert und okkupiert und dient ausschließlich den Interessen eben jener Gruppen, unter billigender Hinnahme der Benachteiligung der 99 Prozent, sind die Korrektive ungenügend und führen zwangsläufig zur – letzten Endes auch gewaltätigen – Infragestellung des Systems.
Im 19. Jahrhundert glaubten die Menschen, es gehe stets aufwärts, vorwärts, man werde zivilisierter, man werde gebildeter. Die Leute lernten lesen, schreiben, sie glaubten, es gehe nicht nur materiell, sondern gleichzeitig auch moralisch voran. (Eric Hobsbawm)
So betrachtet haben Graeber und Grubačić nicht recht. Das Zeitalter der Revolution ist nie zu Ende, sondern wird immer dann in Erscheinung treten, wenn die Ungleichheit zwischen Mensch und Natur, zwischen den unterschiedlichen Kulturen, zwischen Staaten oder in den jeweiligen Mikrosozietäten als unerträglich empfunden wird.
Warum hält der Mensch an einem System fest, das regelmäßig die fürchterlichsten Katastrophen produziert? Das die Umwelt ausbeutet und zerstört, den Ast also absägt, auf dem er sitzt? Und jetzt brechen und knacken überall die Äste. Vielleicht wird die Menschheit noch bedauern, dass sie nicht auf Rosa Luxemburg gehört hat: Sozialismus oder Barbarei. (Eric Hobsbawm)
Erich Hackl schreibt in seinem Nachruf auf den Mitbegründer des Eurokommunismus Santiago Carillo, der in der aktuellen WOZ veröffentlicht wurde: „Eine der größten Ungerechtigkeiten der Geschichte besteht darin, dass Wähler_innen nicht denen ihre Stimme geben, die das meiste dafür getan haben, dass sie überhaupt wählen dürfen.“
Das mag sein.
Die größte Ungerechtigkeit der Geschichte des parlamentarischen Demokratismus besteht aber darin, dass die Wähler_innen denen ihre Stimme geben, die das meiste dafür tun, dass ihre Interessen mit Füßen getreten werden.
Der Mensch hat ein unglaublich kurzes Gedächtnis. Wir Historiker_innen schreiben die Verbrechen und den Wahnsinn der Menschheit auf , wir erinnern an das, was viele Menschen vergessen wollen. Aber fast nichts wird aus der Geschichte gelernt. Das rächt sich nun. In den letzten 30, 40 Jahren wurde eine rationale Analyse des Kapitalismus systematisch verweigert. (Eric Hobsbawm)
This is the end of the world as we know it, but do I feel really fine?
In Anerkennung des Lebens und des Werkes von Eric Hobsbawm. – Trotz seines völlig inakzeptablen Frauenbilds.
Alle Zitate stammen von Stern (2009). Das gesamte Interview kann hier nachgelesen werden: http://www.stern.de/wirtschaft/news/maerkte/eric-hobsbawm-es-wird-blut-fliessen-viel-blut-700669.html