In der Rue d’Aubagne herrscht reges Treiben. Die Gasse im Quartier Noailles verschwimmt hinter dichten mediterranen Winterregenfontänen, in denen sich, von den Wetterbedingungen unbeirrt, die Menschen drängeln.
In der Rue d’Aubagne treffen einander Menschen, die Handel treiben. Duftende, frisch geerntete Orangen liegen zum Kauf bereit. Mandarinen und wachsglänzende Maniokwurzeln türmen sich neben Courgettes, den kleinen kugeligen Zucchini und knackigen, dunkelgrünen Mangoldblättern.
Noailles ist neben Belsunce das letzte lebendige Viertel, das den alten Hafen, den Vieux Port, umschliesst. Noailles ist Zuwanderungsgegend. Und Noailles widersteht. Noch.
Noch wenige Stunden und Marseille und die umgebenden Regionen der Provence sind für ein Jahr Europäische Kulturenhauptstadt – Code MP2013. Dafür soll die Stadt heraus geputzt werden. Mit wertvollen Stoffen, die heute sind: Beton, Stahl und Asphalt. Es dröhnt ab 5 Uhr morgens bis spät Nachts, Schächte werden verfüllt und wieder aufgebohrt. Seit Monaten offengelegte Straßen, in denen der Marseiller Wind den Passant_innen Staub in Augen und Nase bläst, werden mit fett glänzendem Bitumen wieder zugedeckt. Das macht was her und gibt Arbeiter_innen mies bezahlte und schwere Arbeit.
Aménagement, Ausbau und accéléré, beschleunigt, heißen die Schlagworte, die sich auf den großflächigen Infotafeln der Stadtverwaltung immer wieder finden. Damit soll Gutes verheißen werden. Diese Maßnahmen, die an sich und für sich nicht schlecht sein müssten, finden jedoch ihre sozioökonomischen Grenzen rund um die touristischen Hotspots, wie dem Alten Hafen oder dem Pseudobobo-Quartier Cours Julien.
In Belsunce und anderen Ecken Noailles kann lange nach Aménagements gesucht werden. Diese Quartiere haben einen Gutteil ihrer Einwohner_innen bereits ‚verloren‘ und befinden sich erst im Stadium der ‚Vorbereitung‘. Angestammte Bewohner_innen wurden und werden in die Betongetthos am weitläufigen Stadtrand versiedelt, bevorzugt in den Norden Marseilles. Häuser stehen ganz oder teilweise leer und warten auf den Zahn der Zeit. Abtragung einer ‚ruin‘ veranlasst durch Herrn/Frau Sowieso zum Zwecke von XY steht dann auf kleinflächigen Tafeln.
Le Panier nördlich des Alten Hafens wurde von den Stadtpolitiker_innen in eine Pionier_innenrolle der Stadtentwicklung gezwängt. Hier lag das alte Marseille, das wegen seiner verwinkelten Struktur, den engen Gassen und dunklen Höfen, nicht nur den armen Marseiller_innen ein Zuhause bot, sondern auch Gauner_innen, Sozialrebel_innen und Widerstandskämpfer_innen in der Zeit der deutschen Besatzung. Was der faschistische Naziterror nicht schaffte, die ‚Säuberung‘ von suspekten Bewohner_innen, erledigt nun das kapitalistisch angetriebene Aménagement.
Menschen, die hier Jahre ihres Lebens verbrachten, werden mit der französischen Fluggesellschaft Air France in Länder verfrachtet, die sie einst möglicherweise ihre Heimat nannten und in denen ihnen heute Unsicherheit, Hunger, Gefängnis oder gar der Tod drohen, informiert ein Graffiti. Was bleibt, ist der Place de Refuge im Herzen von Le Panier. Nicht oft sind Straßennamen und Platzbezeichnungen so bitter wie an diesem Ort.
Le Panier wirkt beim Durchstreunen entlegen, rural, verlassen. Die erfolgreichste Telenovela des Landes Plus belle la vie (holprig etwa: Das Leben viel schöner) kopierte Le Panier für seine Studiokulissen in den des ehemaligen Squatter-Viertels Belle de Mai. Die Blöcke des Belle de Mai sind vergleichbar mit anderen subkulturellen, aus Besetzungen hervor gegangenen Kulturen- und Begegnungsräumen Europas: Angepasst, brav und überhaupt ganz Kreativwirtschaft. Dem Belle de Mai wird darum die Rolle der devianten, erfrischenden Kulturen während MP2013 zugedacht.
Doch wer im Panier Menschen treffen möchte, wird enttäuscht sein. Die Gassen sind leer. Die adretten Häuser stehen leer. Niemand läuft hier Gefahr, über die in Marseille allgegenwärtigen Müllberge zu stolpern.
Geblieben sind einige Klebegrafittis und nicht wenige fette Ratten, die im dämmrigen Dezemberlicht mit wenig Scheu ihren existenziellen Besorgungen nachgehen.
Und tägliche Lebensumstände, die die freundlichen Menschen bedrücken.
La Méditerranée 2013 – wenig Grund zum Lachen und für Heiterkeit.
Musikvideo:
Bouga – Belsunce breakdown aus dem Film Comme un aimant (Wie ein Magnet) von Kamel Saleh1 und dem Rapper Akhenaton (2000). https://fr.wikipedia.org/wiki/Comme_un_aimant