Zwischen Banyuls-sur-Mer und Portbou in den südlichen Pyrenäen auf den Spuren von Lisa Fittko und Walter Benjamin das Gehen und das Erzählen als Werkzeuge erproben, um sich Geschichte anzueignen. Folge 1: Koordinaten und Grenzgänger_innen.
Verschiedene Erzählstränge führen nach Banyuls-sur-Mer. Einen davon halte ich in Buchform in Händen, während ich vor einem der Cafés an der Avenue de la République sitze, der Durchgangsstraße, die Strand und Ortskern vehement voneinander trennt. Es sind die Memoiren Lisa Fittkos, die 1940/41 im Nationalsozialismus zahlreichen Verfolgten auf einem klandestinen, kaum vorhandenen Weg über die Pyrenäen geholfen hat, Frankreich zu verlassen und nach Spanien zu gelangen, um sich von dort aus in Sicherheit zu bringen. Einer der Geflüchteten, und hier kreuzt sich die Geschichte mit einer zweiten, war der Philosoph und marxistische Kulturtheoretiker Walter Benjamin, der heuer 121 Jahre alt geworden wäre. Lisa Fittko konnte ihn sicher nach Spanien bringen, doch wurde ihm dort gedroht, ihn wegen eines fehlenden Ausreisevisums ans französische Vichy-Regime auszuliefern, und Benjamin beging noch in derselben Nacht im Grenzort Portbou Selbstmord. Der israelische Künstler Dani Karavan schuf hier in Portbou zum Gedenken an Benjamin und die anderen Geflüchteten einen Ort der Erinnerung.
Grenzgänger_innen: Schmuggler_innen, Schlepper_innen, Flüchtige und andere Freiheitsliebende
Weitere Geschichten – wie die der Geflüchteten, die nur eineinhalb Jahre zuvor den entgegengesetzten Weg genommen haben, um sich vor der Franco-Diktatur zu retten, oder die all jener Streuner_innen, Schmuggler_innen, Schlepper_innen, Aus- und Einwander_innen, Freiheitsliebenden, Grenzgänger_innen und Flüchtigen, die im Lauf der Jahrhunderte einen der Wege dort oben benutzt haben, um Waren, Menschen und sich selbst unentdeckt über die Grenze zu bringen – kreuzen diese beiden, die mit dem katalanischen Grenzort Portbou, dem französische Grenzort Banyuls-sur-Mer die Fix-Koordinaten festlegen für eine narrative Skizze, die ich zwischen den Koordinaten und der Fluchtroute entlang auslege, indem ich Erzählungen aneinander reihe, narrative Wegmarker an historischen Kreuzungen anbringe, fotografische Steintürmchen zur Orientierung baue.
Erzählstränge über die Pyrenäen legen
Unsere Vorstellung davon, was für die Zukunft möglich, was unmöglich sein wird, wird bestimmt von dem, was wir uns als Geschichte erzählen. Diesen Möglichkeitsraum der Zukunft zu weiten kann gelingen, indem von der Vergangenheit nicht Geschichte, sondern Geschichten im Plural erzählt werden, die einander kreuzen, treffen, widersprechen, parallel nebeneinander verlaufen und dabei Grenzen überwinden, genau wie die Pfade in den südlichen Pyrenäen. Die Geschichte als eine Vielzahl von Erzählungen zu verstehen, legt offen, wie darum gekämpft wird, wer dabei das Sagen hat und erzählen darf, und welche Version der Geschichte die Menschen sich am sprichwörtlichen Lagerfeuer in Schul- und Geschichtsbüchern und historischen oder politischen Diskursen weiter erzählen. Daran ist nichts neu, aber mehr denn je gilt: It’s fucking political. Als Meta-Praxis beim Neuverhandeln von Geschichte, beim Neubestimmen von Möglichkeitsräumen für die Zukunft rücke ich das Gehen und das Erzählen in den Mittelpunkt. Ich lege fragmentarisch Erzählstränge in Wort und Bild aus, die auf der Wanderung über die Pyrenäen begleiten, um sichtbar zu machen, dass sich Geschichte in einem ständigen Aushandlungsprozess befindet und um der Antwort auf die Frage auf die Spur zu kommen, inwiefern das Erzählen und das Gehen Werkzeuge sein können, um sich Geschichte im Sinne Walter Benjamins anzueignen und einzuverleiben.
(Folge 1)
Literatur:
BENJAMIN, Walter (1977): Über den Begriff der Geschichte. In: Benjamin, Walter. Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1. Frankfurt am Main: 251-261.
FITTKO, Lisa (1985): Mein Weg über die Pyrenäen – Erinnerungen 1940/41. München.