“Wir haben nicht seit zwanzig Jahren mit dem Mittel der Fremdenpolizei gegen die Zunahme der Überfremdung und ganz besonders gegen die Verjudung der Schweiz gekämpft, um uns heute die Emigranten aufzwingen zu lassen.” Heinrich Rothmund, Chef der Schweizer Fremdenpolizei, Jänner 1939.
Wie wir alle wissen, wiederholt sich Geschichte nicht. Vielmehr scheint Geschichte ein ständig reproduzierter Zustand zu sein, ein scheinbar amorphes Gebilde, deren Eigentümer_innen mit Bedacht an steten Projektionsänderungen arbeiten, ohne tatsächliche Veränderungen zuzulassen.
Am Ende steht vielleicht die Erkenntnis, dass die Abschaffung der Geschichte, ihr radikaler Ersatz durch ein Hier und Jetzt, die Hauptbedingung für ein gutes Leben für alle ist.
Die neutrale Schweizer Regierung hatte im August 1942 ihre Grenze für jüdische Flüchtlinge offiziell geschlossen und erklärt, Jüdinnen und Juden seien nicht politisch verfolgt, ein Asyl komme für sie nicht infrage. (Stefan Keller)
Bereits „1933 bestimmte das Schweizer Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement, dass Flüchtlingen kein Daueraufenthalt, keine Arbeitsbewilligung und keine staatliche finanzielle Unterstützung zu gewähren sei.
Jene österreichischen Juden, die dennoch den Weg über die Vorarlberger Grenze schafften, wurden von den Schweizer Grenzschutzorganen meist aufgegriffen und erbarmungslos nach Vorarlberg zurückgestellt, meist in den sicheren Tod der Konzentrationslager. Davon wussten die verantwortlichen Schweizer Politiker und Behörden, die Bundesregierung und vor allem der ausländerfeindlich eingestellte Chef der Polizeiabteilung des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements, Dr. Heinrich Rothmund, bestens Bescheid.“ (Gerhard Wanner)
Der behördliche und politische Umgang der Schweiz mit Refugees zeichnete sich durch einen höchst bemerkenswerten antisemitischen Gleichklang mit der Repressions- und Vernichtungspolitik der Nazis aus, schreibt Stefan Keller. Aber: „Auch die Geschichte der FluchthelferInnen im Nationalsozialismus folgt der Agenda der deutschen Politik. Allerdings nicht indem ihre ProtagonistInnen diese Politik auf eigene Weise nachvollziehen, sondern indem sie etwas dagegen unternehmen, Menschen retten und damit beweisen, dass ein gegenläufiges Verhalten selbst in der schwierigsten Situation noch möglich war.“
Es war ein entwürdigtes Dasein – und das Gefühl, dass man weg muss, wenn man mit dem Leben davon kommen will.
Judith Kohn, Refugee
Es sind die Fluchthelfer_innen, die Schlepper_innen, die gegen Bezahlung Menschen vor Verfolgung retteten, sie in relative Sicherheit bringen konnten. Über sie ist wenig bekannt, ihre Aktivitäten waren immer clandestin. Oft kannten nicht einmal die Menschen, die ihre Leistungen in Anspruch nahmen, ihre Namen. Bekannt wurden sie nur dadurch, dass sie der Polizei in die Hände fielen und in die Kerker eines demokratischen Landes oder in die Todeslager eines faschistischen Landes geworfen worden waren. So viel Systemunterschied muss sein.
Einer der Fluchthelfer war der Diepoldsauer Jakob Spirig, damals 19 Jahre alt. Spierigs Schleppertätigkeit deckte sich also mit Rayon des Kommandanten der Kantonspolizei St. Gallen Paul Grüninger, eine Würdigung hier: uebersmeer.org. Jakob Spirig erhielt als Gegenleistung für seine gefährliche Arbeit zwischen zehn und fünfzehn Mark. „Sie waren so arme Tropfe, wie wir“, wird Spirig später sagen.
Ein Interview mit Jakob Spirig (siehe Video) ist auch im Jüdischen Museum Hohenems zu sehen. In der Edition Museumstexte ist das Gespräch mit ihm abgedruckt. Im nachfolgenden ein Auszug:
Wussten Sie, dass Sie diesen Menschen das Leben retteten?
Ja, wir wussten schon, dass wir ihnen das Leben retten könnten, aber leider war es nicht gelungen. Wir taten das Möglichste. Wir haben ja auch für uns viel aufs Spiel gesetzt. Was uns passiert wäre, wenn uns die Deutschen erwischt hätten – das wäre, glaube ich, nicht so einfach gewesen.
War es auch eine Art Herausforderung?
Nein, eine Herausforderung war es nicht. Wir haben die Konsequenzen gar nicht gekannt. Wir haben nur unser Taschengeld vor Augen gehabt und gewusst, dass wir den Leuten helfen konnten. Dabei haben wir Freude gehabt. Und haben die Grenzwächter ein bisschen hinters Licht geführt.
Gab es auch Grenzwächter, die ein Auge zudrückten?
Ja, das hat es auf beiden Seiten gegeben. Wir haben in Österreich einen Grenzwächter gehabt, der uns sehr geholfen hat. Auch in der Schweiz hat es solche gegeben, die wenn sie etwas gesehen haben, weggeschaut und vertuscht haben.
Was glauben Sie, aus welchen Gründen setzten sich auch Zöllner für die Flüchtlinge ein?
Aus humanitären Gründen, weil sie gewusst haben, dass die Leute aus Wien vertrieben wurden und wir in der Schweiz genug zu essen hatten, so dass man diese Leute ruhig aufnehmen konnte.“
Jakob Spirig wurde zu einer mehrmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt. Sein Verbrechen: Fluchthilfe für 100 bis 150 Refugees.
Lesetipp:
Edition Museumstexte, 02 Interviews, Jüdisches Museum Hohenems
Mehr zu Fluchthelfer_innen rund von Gerhard Wanner, Flüchtlinge und Grenzverhältnisse in Vorarlberg 1938 – 1944, http://www.erinnern.at/bundeslaender/oesterreich/e_bibliothek/seminarbibliotheken-zentrale-seminare/an-der-grenze/229_Gerhard_Wanner.pdf
Von Stefan Keller:
Nur die Erwischten sind bekannt. In den letzten eineinhalb Jahren sind über fünfzig FluchthelferInnen aus der Zeit des Nationalsozialismus rehabilitiert worden. Eine kleine Geschichte des Widerstands gegen eine unmenschliche Flüchtlingspolitik.
http://www.woz.ch/0535/fluchthilfe/nur-die-erwischten-sind-bekannt
Stefan Keller ist auch Autor von Grüningers Fall, Geschichten von Flucht und Hilfe, Rotpunktverlag
Der Link zur Doku Die Fluchthelfer von Diepoldsau von Hansjürg Zumstein
http://www.srf.ch/player/tv/srf-wissen/video/die-fluchthelfer-von-diepoldsau?id=486d5b5f-54eb-4bb9-bc27-ef94e820155b
Wikipedia-Eintrag zu den Kindertransporten nach Großbritannien https://de.wikipedia.org/wiki/Kindertransport