Eine der vielen europäischen Krisen stellt das Konstrukt der Immigrationskrise dar. Wenn Zehntausende auf dem Weg nach Europa sterben, ist die Krise keine Flüchtlingskrise, sondern, wie alle anderen Krisen, eine politische Krise.
Die Gründe für den lebensgefährlichen Weg nach Europa sind vermutlich so vielfältig, wie die Menschen, die ihn beschreiten. Die kausalen Gründe liegen in einem nach wie vor wirksamen nördlichen Kolonialismus, in ungehemmter Ausbeutung von Ressourcen mit unabsehbaren ökologischen Folgen, Wirtschaftsbeziehungen, die Not und Elend verstärken, Koalierungen mit korrupten Oligarchien und feudaler militärischer Durchsetzung geopolitischer Interessen. Die europäischen Eliten sind weder fähig, das Sterben an den EU-Grenzen zu beenden, noch besteht der Wille, diese gegenwärtige Form, die nur von Europäer_innen als sublime Fortsetzung einer imperialistischen „Tradition“ gelesen werden kann, zu beenden.
Zu groß sind die Vorteile für die Festung Europa, wenn dieses mordende Grenzregime aufrecht erhalten wird. Zu überzeugend sind die niedrigen Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse wie Gemüse und Obst, das von einem auf Illegalisierung von Menschen ausgelegtem Rechtssystem, die auf Grund der Schöpfung eines vollkommen entrechteten, im besten Fall informell tagelöhnerischen Subproletariats möglich werden. Menschen werden zur kapitalistischen Verschubmasse gemacht, deren Voraussetzung die Entsolidarisierung und ein ausgeblendetes Klassenbewusstsein sind.
Doch es geht auch anders. In Süditalien, das nach wie vor von den ökonomischen und sozialen Strukturen der Mafia dominiert wird, liegt das Dorf Riace in dem ein Entwurf für ein antirassistisches Europa ohne Fremdenhass skizziert wird, berichten europäische Medien.
Aber wie sehen das die Refugees von Riace?
Riace ist eigentlich zwei Orte. Das alte Riace Sopra liegt zum Schutz vor Überfällen, die vom Meer her drohten, auf den vorgelagerten Hügeln des mächtigen Aspromonte-Gebirges. Das jüngere und größere Riace Marina wurde direkt am Ionischen Meer angelegt. Am Bahnhof hält kaum ein Zug, die digitale Anzeigetafel bleibt meistens leer. Trotzdem ist dieser Ort stark frequentiert. Statt in den Warteraum gehen die Menschen hier in eine Apotheke. Schräg gegenüber, keine 50 Meter vom weißen Sandstrand entfernt, liegt ein sozialer Stützpunkt des Fonds Protezione Civile, in dem die Immigrantes mit Kleidung versorgt werden. Die Riacesi* sagen nämlich Immigrantes, wenn im deutschsprachigen Europa im nettesten Fall von Wirtschaftsflüchtlingen oder Asylwerber_innen gesprochen wird. 2012 protestierten zahlreiche Refugees in Riace gegen Protezione Civile und blockierten die Küstenstraße SS-106. Auseinandersetzungen mit paramilitärischen Einheiten der Carabinieri waren die Folge. Zwei Bürgermeister_innen traten in Hungerstreik, weil der Staat die Zahlungen an das Projekt Città Futura einstellten. Aus politischen Gründen.
Der Bus ins sieben steile Kilometer entfernte Riace Sopra verkehrt selten, die Abfahrtszeiten kennt keine_r genau. Haltestelle? Da vorne, vielleicht. „Dort sind viele Ausländer*“ lautet der abschließende Hinweis. Am Weg liegen abgeerntete Felder, die so trocken und steinig sind, dass sie mit einem Bagger umgegraben werden. Der Sommer ist vorbei, und vom Aspromonte fallen dichte Wolkenschwaden ins Meer hinunter. Der kilometerlange Strand ist beinahe menschenleer. Nur zwei oder drei kleine Hotelanlagen liegen zwischen Küste und Durchfahrtsstraße.
Von den wenigen Hotelgästen verliert sich niemand in den Ort, schon gar nicht in die entzückende Taverne, deren mit großzügig Schatten spendenden Gummibäumen bepflanzter Vorplatz am Abend zum sozialen Treffpunkt wird. Schlichte aber delikate Speisen kreiert die Besitzerin, die Speisekarte dient lediglich zur Orientierung. Gekocht wird, was gerade an Vorräten da ist. „Den Wein bauen wir ‚da oben‘ selbst an, ohne Gift und Chemie“, betont der Sohn mit einer weit gestreckten Armbewegung in Richtung Himmel.
„Da oben“ liegt in einer Kurve auch die „Öko-Insel“. In Riace wird nämlich Müll getrennt! Beinahe allgegenwärtig sind sie, die drei Holzbehälter. Auch das kommunale Abfallentsorgungssystem macht Riace besonders. Mit Eseln wird der sortierte Müll aus den schmalen Gässchen von Alteingesessenen und Zugezogenen transportiert. Vor der Kirche, neben der Bar wird für ein Pläuschchen Halt gemacht. Für ein Erfrischungsgetränk fehlt ihnen das Geld.
Geld fehlt auch den verschiedenen Beschäftigungsprojekten im Dorf, erzählt Mohammed (Name geändert). Deshalb seien alle geschlossen. Die Tavernen, die Keramikwerkstatt, das Textilstudio. Erwerbsarbeit ist den Immigrantes nämlich auch in Italien verboten. Später soll uns erzählt werden, dass die Projekte die übliche Sommerpause halten. Es komme aber schon vor, dass die Beschäftigten mit italienischem Pass die Arbeit einstellen, wenn wieder einmal der Lohn ausbleibt.
Geld fehlt überall.
„Wir erhalten keine Unterstützung. Erwähnt mich aber bitte nicht. Ich habe sonst nur Nachteile zu befürchten“, erzählt Mohammed in verbittertem Ton.
Zuerst langsam und vorsichtig abwägend schildert Mohammed seine Geschichte der Flucht. Eine ganz „normale“ europäische Fluchtgeschichte. In Norwegen wurde sein Asylantrag abgewiesen, ebenso in Großbritannien, aus Österreich wurde er umgehend abgeschoben. In Belgien steckten ihn die Behörden für ein Jahr ins Gefängnis.
Mohammed flüchtete, nachdem seine halbe Familie ermordet wurde. Zuvor vernichteten sie zur Warnung die wirtschaftliche Existenzgrundlage der Familie. „Den Krieg begannen die Amerikaner*“ benennt er die seiner Meinung nach an seiner Situation Schuldigen. Mohammeds Stimme fehlt die Luft zum Reden, seine Hände zittern, Schweißflecken. Aus Verzweiflung warf er seine Dokumente weg, gab andere Namen an. Warum log er und gab falsche Namen an, wurde er von der Polizei gefragt, nachdem seine Fingerabdrücke positiv mit der Datenbank EURODAC abgeglichen wurden.
Gäbe es nicht einen hilfsbereiten Verwandten, der in einem europäischen Land einen Aufenthaltstitel genehmigt erhielt, er könnte hier nicht überleben. „190 Euro im Monat, Kleidung, Essen und Unterkunft reichen seit sechs Jahren nicht für ein menschenwürdiges Leben.“ Mohammed sitzt hier fest. Es gibt kein Zurück und kein Vorwärts. „Warum löschen sie meine Fingerabdrücke nicht? Warum geben sie mir keine neue Chance? Warum lassen sie mich nicht arbeiten?“
Ein Gruppe junger People of Colour quert den in der Mittagssonne dösenden Dorfplatz. Eingeklemmt unter den Armen halten sie bunte Collegemappen. Die Schule ist für heute zu Ende.
„Sie behandeln uns gut hier.“ Diese Einschätzung findet in der Gruppe ungeteilte Zustimmung, obwohl sie sich ein wenig als Bitte-keine-blöden-Fragen-stellen interpretiert werden kann. „Wir lernen italienisch, weil sie der Meinung sind, dass es gut für uns ist“, erzählt eine von ihrem Satz wenig überzeugt wirkende junge Frau. Hinter ihr hat sich der Rest der Gruppe aufgereiht. Ein Typ, der sich zum Sprechen neben die Frontfrau stellt, lobt den Sprachkurs. Ein anderer ergänzt: „Dieser ist die Voraussetzung, um überhaupt in ein offizielles Verfahren aufgenommen zu werden. Es gibt verschiedene Stufen, die zu durchlaufen sind.“ Die Lernmaterialen erhalten sie kostenlos, ebenso Kleidung und Unterkunft. Der Unterricht bringe etwas Abwechslung in das eintönige Leben. Arbeiten dürfen sie nicht und deshalb fehle ihnen Geld. „Aber wenigstens kommen wir so nicht auf schlimme Gedanken“, versucht einer der Situation etwas Gutes abgewinnen und lacht. Andere nicken.
Eine Frau, die stehen bleibt, um das Gespräch zu beobachten, unterbricht und will wissen, wie sie denn nach Europa gelangen könne. Das wollen plötzlich alle wissen. Die Reihe löst sich flugs auf und ich stehe in einem Dreiviertelkreis. Nach Riace seien sie nämlich nicht freiwillig gekommen. Sie wurden alle hier rauf gebracht. Wieso gerade sie nach Riace gebracht wurden, können sie nicht beantworten.
Einige Stufen in die Höhe – einen Cafe freddo, bitte!
„Probleme?“ Die Mittdreißigerin scheint für eine Sekunde die Ernsthaftigkeit der Frage in Zweifel zu ziehen. „Überhaupt keine. Im Gegenteil, unsere Kinder lernen voneinander. Die Immigrantes bereichern unser Leben“, und schiebt mir wie zum Beweis ein zerfleddertes Buch über die Geschichte von Riace und seinen Immigrantes über den Tisch.
Ein Ort im Nirgendwo, Überalterung und Abwanderung und eine Schiffskatastrophe, bei der 218 kurdische Refugees überlebten, brachten den Lehrer Domenico Lucano, der später zum Bürgermeister von Riace gewählt werden sollte, auf die Idee, ökonomische , demografische und humanitäre Herausforderungen einer kleinen Kommune mutig neu zu formulieren und intelligent und zukunftsorientiert zu beantworten. Die Idee zur Stadt der Zukunft – zur Città Futura war geboren. So lesen sich die Berichte über das Modell Riace. Der erste Blick auf das Dorf überrascht.
Hoch oben stehen ein paar nicht gerade bescheidene neue Wohnhäuser. Aus der Schule beim Ortseingang dringt ein vielstimmiger Kinderchor, weiter oben befinden sich eine Metzgerei, das Gemeindeamt, ein Lebensmittelhändler, Bars, eine Pizzeria. Erst weiter hinten entwickelt das Dorf den verstaubten Charme einer rustikalen Landtheaterkulisse. Dennoch: Riace glänzt mit einer Infrastruktur, wie sie größere zentraleuropäische Orte nur erträumen können. Das war nicht immer so: Die Schule wurde wieder eröffnet, als genug Kinder im Ort waren, die Pizzeria hat ebenfalls erneut aufgemacht.
Freilich finden nicht alle in Riace den Bürgermeister Domenico Lucano und seine Città Futura toll. Manche im Ort kritisieren, dass er sich zu sehr für die Anliegen der Immigrantes einsetze und andere Probleme, wie zum Beispiel die Müllentsorgung (siehe oben) vernachlässige. Und womit sind die Immigrantes nicht gar so zufrieden? „Eigeninitiativen werden abgeblockt.“ Und: „Wenn einmal ein_e Minister_in aus Rom unser Dorf besucht, wird uns keine persönliche Gesprächsmöglichkeit gegeben“, kritisieren sie. In Kalabrien sei es nicht anders als in ihren Herkunftsländern: „Die oben bedienen sich, den Armen bleibt nichts.“
Bei aller zutreffenden Kritik: Den Immigrantes in Riace bleibt ein miserables Leben wie in anderen süditalienischen Städten erspart: Eine Rampe einer Industrieruine oder ein aufgelassener Bahnhof als „Wohnung“ und einem Stück Wellkarton als „Bett“, ständig auf der Suche nach informellen gefährlichen Erwerbsmöglichkeiten.
„Rassimuserfahrungen? Sieh dich um. Wir sind alle Freunde*.“
Links zu Riace und der Ausbeutung von Refugees*:
„Ort der Aufnahme?“ Ein kritischer und informativer Reisebericht nach Riace findet sich auf http://www.malmoe.org/artikel/widersprechen/2766
Mehr zu Verwertung von Refugees* in der italienischen Agrarökonomie, Protesten und ihren Arbeitskämpfen sowie Polizeirepression und der Rolle der Mafia hier http://bitter-oranges.com/
„Mit der Mafia gegen MigrantInnen – Die Hetzjagd auf TagelöhnerInnen in Italien nutzt der ‚Ndrangheta und der Regierung.“ – Bericht auf http://no-racism.net/article/3236/
Hier auch eine generelle Berichterstattung zu Grenzregime Italien http://no-racism.net/thema/119/ und ein Bericht über die Feststellungen und Forderungen der Versammlung der afrikanischen Arbeiter* von Rosarno in Rom vom 31.1.2010
Claus Pirschner schrieb für FM4 im Bericht „Riace – das gallische Dorf in der EU“ u.a. auch über ökonmische Hintergründe, warum der italienische Staat Riace unterstützt und stellt Vermutungen darüber an, warum die Mafia mit der Città Futura wenig Freude hat http://fm4.orf.at/stories/1702485/