Meine Nachbar_innen meines kleinen Universums sind 28 an der Zahl. Alle zeigten sie sich tief schockiert über die weiteren 800 Todesopfer. Opfer ihrer nachbarschaftlichen Verfasstheit. Opfer eines willkürlichen Regelwerks, das sie sachlich gerechtfertigt, alternativlos und ein klein wenig opportun betrachten.
Ihre Spin-Ärzt_innen fügten rasch Termine in den Kalender. Gedenkveranstaltungen. Schweigeminuten. Trauer und Betroffenheit. War auch eine Träne dabei?
Dem Schock folgte Tatendrang. Das Sterben an den mediterranen Urlaubsghettos müsse ein Ende haben.
Die Ursache war schnell bei der Hand und gut eingeübt. Üble Schlepperbanden, die sich todesverächtlich und voll bekifft mit ihren abgezockten Kund_innen auf havarierte Geisterschiffe setzen, um gen nördliches Festland zu schiffen.
Da hilft nur noch Kanonenbooteinsatz
Ein marktliberaler Nachbar dozierte vor offenen Mikrofonen das Prinzip von Angebot und Nachfrage. Mehr Seenotrettung im Mittelmeer bedeute mehr Schlepper_innen, die mit noch schlechteren Schiffen noch viel mehr Flüchtende in den sicheren Tod schippern würden. Ein Typ, der mit Makler_innen wegen einer hübschen Immobilie in der Nachbar_innenschaft bereits seit längerer Zeit verhandelt, erklärte: Nur die Klarheit über das todsichere Ertrinken könne genügend abschreckende Wirkung erzeugen, um weiteres Sterben zu verhindern.
Escaping Eritrea: ‚If I die at sea, it’s not a problem – at least I won’t be tortured‘ http://t.co/doMzIA9GD6 via @guardian #stragemigranti
— Maura Corrado (@maurett) 21. April 2015
In der Politik läuft das Leben hingegen anders. Größer. Erleuchteter.
Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, die für die gestiegenen Lebensmittelpreise vor Jahren milchsaufende chinesische Bobos verantwortlich machte, fand die Idee, europäische Asyllager in Afrika zu errichten, nicht ganz so toll. Afrika (claro!), sei nicht überall demokratisch. Ihr Blick richtet sich nach Libyen. Dort, von woher aus die meisten starten, seien alle Strukturen zusammengebrochen.
Tatsächlich. Auf der Achse des Bösen, gleich an zweiter Stelle nach Irak, aber noch vor Syrien, wurde Libyen mit einem westlich-demokratischen Bombenteppich zugedeckt, der Rekorde brach. Der grausame Diktator Gaddafi, dessen Sohn übrigens mit einem früheren, leider bereits verstorbenen Nachbarn, gut befreundet war, suchte in einem Abflussrohr Zuflucht. Vergeblich. So das zeitgeschichtliche Narrativ über ein Land, das früher die höchste Lebenserwartung, die geringste Geburtensterblichkeit und Analphabet_innenenrate in Afrika vorzuweisen hatte.
Als Gaddafi damit drohte, „Millionen Schwarzer“ auf ihrem Weg nach Europa nicht mehr zu jagen, war die Geduld der Allianz des War on Terror zu Ende. Dabei hatte er sich eine Zeit lang kooperativ gegeben. Eine EU-Kommissärin, die 101 Sprachen sprechen konnte, lobte die Politik Libyens, „seine Position in der internationalen Gemeinschaft zu festigen“. Dann aber, wie erwähnt, Schluss mit lustig. Und somit keine europäischen Gefängnisse in der Wüste für Menschen auf der Flucht.
Das haben auch meine Nachbar_innen bemerkt, den Trauerflor noch in der Hand bekundeten sie, mit sich allein vollauf zufrieden zu sein. Deswegen haben sie das Quartier unilateral zur Gated Community erklärt und des weiteren ganz abschreckende Maßnahmen beschlossen. Damit sollen alle außerhalb erfahren, dass hier mit brutaler und grauslicher Begegnung und umgehenden Rauswürfen zu rechnen ist. Die Nachbar_innen wären in ihrer abgrundtiefen [Ge]Hässlichkeit am besten zu meiden, lautet die Drohung.
Ich bin mir nicht sicher, wie lange meine Nachbar_innen noch Nachbar_innen sein werden.
Nachbar_innen kann man sich in einem „Angst- und Todes-Universum einer mörderischen, verwüstenden Zivilisation“ (um nach Jahren wieder einmal Rolf Dieter Brinkmann zu zitieren) bekanntlich nicht aussuchen.
Aber