Donostia ist die europäische Kulturhauptstadt 2016, sagen die einen. San Sebastian ist die europäische Kulturhauptstadt 2016, sagen die anderen.
Was nun? Schon bei der Ortsbezeichnung beginnt das Dilemma. Während sich das Mehrheits-Europa der kastillischen Bezeichnung der Stadt am Golf von Biskaya anschließt, bestehen die Bask_innen diesseits und jenseits der französisch-spanischen Grenze auf „ihrem“ geografischen Namen: Donostia.
Vertreter_innen der Endlich-die-Vergangenheit-Ruhen-Lassen-Politik schlagen DSS2016EU, Donostia-San Sebastian vor und hängen wie zur Sicherheit noch ein EU an das Oikonym. Der Konflikt, der sich bereits bei der Bezeichnung der Ortsnamen abzeichnet, findet in Zeiten des Kulturkampfs um eine europäische Identität seine Fortsetzung. Gehört der Befreiungskampf der baskischen Terrororganisation ETA zur Kultur des europäischen Abendlands? Ist das Baskenland seit 1512 von Spanisch-Kastillien besetzt? Hat das Baskenland im 21. Jahrhundert ein Recht auf Selbstbestimmung und könnte es dennoch einen Platz innerhalb der Europäischen Union einnehmen? Wie verhält sich ein rechtsgewendetes Europa zu linken oder sogar linksradikalen nationalistischen Bewegungen?
Fragen, die die als Tourismusspektakel inszenierte „Europäische Kulturhauptstadt“ vermutlich nicht einmal berühren wird, wie aus den werbestrategischen Positionen der Stadt herauszulesen ist. Donostia / San Sebastian soll eine weltweit bekannte Marke werden, im Standortwettbewerb des boomenden Städtetourismus als ernstzunehmende Größe wahrgenommen werden.
uebersmeer bloggt sich in loser Folge durch Donostia / San Sebastian und wirft einen Blick hinter die Fassade eines heraus geputzten Seestädtchens, spricht mit seinen Bewohner_innen, liest sich durch Publikationen und erzählt ihre Geschichten weiter.
In Donostia befand sich seit 2010 das Soziale Zentrum Kortxoenea Gaztetxea in einer besetzten leerstehenden Fabrik. Unter anderem wurden hier mehr als 800 Theateraufführungen von Stadtteilbewohner_innen inszeniert. Immobilienspekulation, eine willfährige kommunale Elite und ein brutaler Polizeieinsatz bereiteten der kulturellen Nachbarschaftsinitiative im Oktober 2015 ein Ende. Gentrifizierung bedeutet im Donostia des Post-ETA-Zeitalters auch, als Kulisse global agierender Konzerne auserkoren zu sein. Restaurants werden unter Federführung multinationaler Gastro-Ketten dem globalisierten Massengeschmack und mit viel Tamtam und prekarisierten Lohnarbeiter_innen zurechtgekocht. Wohl nicht zufällig setzte vor vier Jahren die baskische Vorzeigegenossenschaft Mondragon eine Edel-Kochschule in die grüne Wiese.
Nicht alle in Donostia sind mit dem Umbau der Stadt in eine Kulisse des neoliberalen Warenfetisch einverstanden. „Im Grunde“, erklärt der Wissenschafter und Buchautor Andeka Larrea der in Donostia erscheinenden Zeitschrift EKINTZA Zuzena, „sucht der ‚kognitive‘ Kapitalismus ständig nach Verhandlungsnischen und wird dabei immer intimer, immer zudringlicher, sodass die Formen des Stadtlebens verändert werden – das Bewohnen einer Stadt bedeutet eine bestimmte Lebensart zu führen, die neue Bilder des Urbanen hervorbringt, die sich als hegemoniale Bilder etablieren, eng gebunden an die Entpolitisierung und einfache Konsumierbarkeit, so wie sich auch unsere Körper in Produzent_innen des symbolischen Kapitals verwandeln. Das bedeutet: Durch meine bloße Anwesenheit generiert mein Körper symbolisch Mehrwert. Ich generiere Mehrwert, wenn ich als Wert im Raum der Stadt-Marke identifiziert werde.“ Das spüren auch die Bewohner_innen und kritisieren die Disneylandisierung der Stadt.
Bloß: Disneyland kennt keine realen Menschen als Stadtinventar.
Mit imperialem Gehabe, der Merkantilisierung und der Konstruktion einer Stadtkulisse hat es Donostia / San Sebastian schon von jeher.
1921 flanierte der Adel und eilte die Unterschicht zwangsverordnet auf unterschiedlichen Straßenseiten. Zum Vergnügen der Flaneur_innen sollte an der Mündung der Urumea in den Atlantik ein Casino, der Große Kursaal errichtet werden. Für den Bau wurden zahlreiche Tagelöhner_innen aus der näheren und ferneren Umgebung angeworben. Spanien glich zu der Zeit einem sozialen Pulverfass. Einerseits war der Staat auf Grund seiner verlustreichen Eroberungskriege bankrott, andrerseits zählte die Bourgeosie zu den Kriegsgewinnler_innen des 1. Weltkriegs, auf der dunklen Seite der Erde, die Arbeiter_innen zu den Verlierer_innen. Wie auch in Deutschland und Österreich schlugen sich die Sozialist_innen auf die Seite der Eliten, während bezahlte Pistoleros, die nationale Polizei und die Militärpolizei Guardia Civil Jagd auf syndikalistisch organisierte Arbeiter_innen machten. Zur gleichen Zeit gründeten der Bergarbeiter Gregorio Suberviela, der Maurer Marcelino del Campo, das Rich Kid Albadetrecu und Ruiz, Sohn eines Eisenbahners die anarchistische Gruppe der Gerechtigkeitsliebenden – Los Justicieros. Kurz vor der Eröffnung des Großen Kursaals wurde in Valencia der Ex-Gouverneur von Barcelona von Anarchist_innen wegen der Ausübung des Flucht“gesetzes“ auf 33 Syndikalist_innen bei einem Anschlag getötet. Das Ley de la Fuga (Fluchtgesetz) erlaubte der Polizei jemanden laufen zu lassen und dann hinterrücks – wie auf der Flucht – zu erschießen. Als sich der spanische König Alonso XIII., der „seine Untertanen“ als Kanaille bezeichnete, zur Eröffnung des Kursaals ansagte, war der Plan der Justicieros geboren. Auch Alonso XIII. musste sterben. Die Gerechtigkeitsliebenden tarnten sich an der Urumea als Köhler und hoben einen Stollen aus, der bis zum Empfangsraum des Großen Kursaals reichen sollte. Der Revolutionär Buenaventura Durruti, der im spanischen Bürgerkrieg zwischen 1936 und 1939 noch eine herausragende Rolle spielen sollte, war damals ebenfalls in Donostia / San Sebastian aufhältig, ihm oblag die Besorgung des Sprengstoffs. Am Ende des Stollens, unterhalb des Empfangsraums sollte der unterirdische Anschlag durchgeführt werden. Doch die Pläne flogen auf. Abel Paz, der selbst auf der Seite der Republikanischen Kräfte aktiv war, schreibt in seiner Durruti-Biografie, dass die großen Mengen an Aushubmaterial die Anschlagspläne verrieten. Historisch versierte Menschen in der Stadt berichten hingegen, dass der Stollen aufgrund der schwierigen geologischen Verhältnisse schlicht und einfach zusammenbrach.
Der Zusammenbruch des Großen Kursaal, der wie das Soziale Zentrum Kortxoenea Gaztetxea im Viertel Gros lag, fand schließlich und bürokratisch verordnet Anfang der 1970er Jahre doch noch statt. Danach lag die Fläche fast zwanzig Jahre brach, bis 1999 der neue Große Kursaal als Palacio de Congresos y Auditorio Kursaal, diesmal ohne bekannt gewordene Anschlagspläne, eröffnet wurde.
Die Geschichte des Großen Kursaals ist weniger bekannt als das im Gebäude veranstaltete Internationale Filmfestival, das sich auch immer wieder der Aufarbeitung der jüngeren baskisch-spanischen Geschichte widmet. Ein Schwerpunkt im Herbst 2015 waren übrigens Filme über und mit Menschen, die wegen Verfolgung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung bzw. ihrer Geschlechtsidentität-en flüchten müssen.
Lesetipps und Quellen:
Andeka Larrea, Hsg./Autor, Euskal Hiria, Reflexion sobre la ciudad y las ciudades vascas, Ediciómes Liburuak, 2012.
EKINTZA Zuzena, Aldizkari libertarioa, 42. zkla., 2015
Abel Paz, Durruti, Leben und Tode des spanischen Anarchisten, Nautilus, 1994.