Der Flieger wackelte über die Faröer Inseln und ich musste an die grandiose Heimatbeschimpfung denken, die eine Zeit lang auf Wiener Hausfassaden zu lesen war: 9:0.
Das Flugzeug taumelte weiter durch den Orkan über dem Nordatlantik in Richtung Reykjavik. Die Fluglinie finanzierte sich die nächste Ladung steuerfreien Kerosins mit dem Verkauf unnützer Dinge, die in abgegriffenen Hochglanzkatalogen ausführlich beschrieben und bebildert waren. Hinter dem Werbekatalog klebte eine aufwändig gestaltete Fluglinienillustrierte. Kurzes Daumenkino, um die Zeit zu ermorden.
Ich wurde überrascht. Texte und Illu stammten offensichtlich nicht aus dem Keyboard des isländischen Tourismusministeriums. An einem zweiseitigen Beitrag über den ersten isländischen Terroranschlag blieb ich hängen. Die Story las sich so übertrieben, dass ich spontan beschloss, zum Mývatn-See zu fahren, um herauszufinden, ob die Zustimmung zur Sprengung des Damms durch Öko-Aktivist_innen wirklich so groß ist, wie sie in dem Heft dargestellt wurde.
Seit dem die Isländer_innen zur Vielen-Einiges-Nehmen-Und-Wenigen-Geben-Umverteilung durch Staat und Kapital gezwungen wurden, entstand in der isländischen Gesellschaft offensichtlich etwas, das sehr, sehr weit über kontinentaleuropäisches Wutbürger_innentum hinausgeht. Irgendwie kamen sehr viele auf die Idee, dass politische Analyse Praxis werden muss.
Ich misstraute dieser Erzählung heftig. Zweifel bestehen bis heute und der erlebte Antiromaismus trägt dazu bei.
Man* sieht sie im TV und sieht sich bei Kindstaufe oder beim Begräbnis
Meine Gesprächspartner_innen empfanden meine bohrenden Fragen als ziemlich nervend: „Ist das tatsächlich so? Wie war/ist das möglich?“
Im der Kunstgalerie der isländischen Gewerkschaft A.S.I. begegnete ich einer Frau, die auf die Isoliertheit und Begrenztheit der Insel hinwies: „Wissen Sie, wir sind alle verwandt“, antwortete sie schließlich. „Wir alle kennen die Gaunereien unserer Verwandten.“
Und so wissen Oma und Opa, wer an der großflächigen Umweltzerstörung, die von Stromkonzernen- und Aluminiumfabriken verursacht werden, verdient. Onkel und Tante erlebten, wie Nichte und Neffe Opfer der isländischen Banksters* wurden.
Soziale Verwerfungen, Armut und ihre Folgen, staatliche Repression inklusive, waren seit den Zeiten der Großen Depression in Vergessenheit geraten. Was also tun, wenn auf keine Erfahrungen im Handling mit existenziellen Krisen zurück gegriffen werden kann?
Aus den Augen, aus dem Sinn?
Wie bei jeder sozialen Revolte, die nicht den Sturz des Systems zum Ziel erklärt, ermüdete der Widerstand, zerbröselten die fantasievollen Proteste. Die politische Maxime der Eliten, dass sich etwas ändern muss, damit sich nichts ändert, sollte bei den nachfolgenden Wahlen erneut mit Erfolg angewendet werden. Nachdem die Pots and Pans-Proteste kriminalisiert wurden, konnte auch der zu ihrer Erinnerung von Santiago Sierra errichtete Black Cone aus der zentralen Achse vor dem isländischen Parlament ins randständige Gebüsch gerückt werden. So viel zur Bedeutung von Symbolpolitik.
Binnen 24 Stunden nach Bekanntwerdens der Panama Papers (die fast zur Gänze zensiert wurden und de facto keine Neuigkeiten zu den Praktiken der Steuervermeidung ans Licht der Öffentlichkeit beförderten) zogen die Isländer_innen wieder durch die Straßen Reykjaviks. Weil Cousine und Cousin aus Erfahrung Einiges über staatliche Repression erzählen können, wurde mit einer Portion Vorsicht und Patriotismus nur isländisches Skyr (aromatisiertes Joghurt) gegen das Parlamentsgebäude geworfen.
„I love crisis,“ sprach die ins Visir der USA geratene wikileaks-Aktivistin und heutige Abgeordnete der Piraten*Partei Birgitta Jónsdóttir vor einigen Jahren auf dem Grazer Elevate-Festival und lachte dazu herzlich. Weil: Erst die Krise schafft das Momentum zur Veränderung.
Ein Momentum, auf das die von der neuen Armut Betroffenen wohl allzu gerne verzichten würden.