Noch heute erzählt ein Elternteil wie schwer das gewesen sei, mit diesen Geschenken bei allen möglichen Festen. In der Schule, privat in der Familie und mit Verwandten. Nikolaus war eines der sinnfreiesten und im Kontext mit dem sogenannten Krampusfest, für uns Kinder die bedrohlichste Zeit des ganzen Jahres. Darüber täuschten auch die zu erwartenden Süßigkeiten nicht hinweg.
Egal, ob in Bildungsanstalten oder beim Einkauf, in diesen dunklen Dezember-Tagen war immer und überall eine Konfrontation mit diesen sonderbar verkleideten Gestalten zu erwarten. Immer und überall war damit zu rechnen, dass sich fremde Erwachsene über dich beugten und mit gekünstelter tiefer Stimme Fragen an dich richten, die ich schon als kleiner Mensch als unzulässige Grenzüberschreitung empfand.
Die Drohkulisse Nikolaus
Von anderen Kindern unterschied ich mich vor allem dadurch, dass ich vor Erwachsenen keine Furcht und wenig Respekt empfand, jedenfalls nicht mehr als vor meinen Freund_innen. Trotzdem erinnere ich mich daran, dass diese Begegnungen mit Stress verbunden waren. „Warst du auch immer brav?“ war keine bloße Frage. Der drohende Charakter dieser Inszenierung, der durch Stimmlage, dem „auch“, der Körperhaltung und dem verbogenen Stecken in der Hand vermittelt worden ist, entging uns auch als Kleinkinder nicht.
Selbstverständlich war ich nie brav. Brav zu sein, war für mich eine verachtenswerte Eigenschaft von Kindern, die sich zu ihrem Vorteil bei Erwachsenen einschleimten, folgsam und unhinterfragt ihre ihnen aufgetragene Aufgaben stur erledigten, sich bei Problemen immer auf die Schlimmen, die Anderen ausredeten und bei gemeinsamen Erfolgen diese als ihr persönliches Verdienst reklamierten. Als Kind konnte ich dieses Verhalten nicht richtig einordnen und so fand ich brave Kinder bloß stinklangweilig. Mit denen gab es nichts zu erleben, die große Welt da draußen konnte mit denen nicht erforscht werden, schon gar nicht waren gezielte Grenzüberschreitungen andenkbar. Ihre Kleidung musste stets sauber und adrett bleiben. Aber ich verachtete sie deswegen nicht persönlich, eher war es eine Art Mitleid. Wer wechselt denn freiwillig in ein katholisches Internat?
Klingt nach Pipi Langstrumpf? Schon, Pipi mochten diese braven Kinder wirklich nicht, während wir von einem Haus für uns ganz allein und einem Äffchen träumten.
Wir können auch brav
Wir Schlimmen entwickelten Strategien, wie wir die Repression möglichst klein halten konnten. Eine davon war, die weitaus wirksamste übrigens, eine andere Wahrheit zu erzählen. Erwachsene, die in normierenden Systemen denken können nämlich mit Wahrheit nicht gut umgehen. Deshalb fällt es ihnen schwer eine andere Wahrheit anzuzweifeln, so lange sie nicht als Unwahrheit entlarvt und sanktioniert werden kann. Also entwickelten wir ein Gespür dafür, wer für welche Art der Darstellung besonders anfällig war. Einem Schuldirektor oder einem Polizisten mussten wir andere Erzählungen anbieten, als zum Beispiel der Oma einer Freundin. Das verinnerlichten wir mit der Zeit, ohne Genaueres zu verstehen.
Und so verhielt es sich auch im Umgang mit der Nikolaus-Figur. Noch sehr klein antwortete ich mit ja und dieses dilettante Schauspiel, mit dem vom Kinn herabhängenden Zeugs (ich kannte keine Person mit Bart), zeigte sich zufrieden. Manche erledigten lustlos ihren prekären Job, wiederum andere genossen ihre machtvolle Ein-Tages-Rolle. Diese richteten an erwachsene Begleitpersonen nachbohrende Kontrollfragen. Das war immer gefährlich. An so etwas wie Absprachen war mit Erwachsenen nicht zu denken. Nie war einzuschätzen, wie nachtragend die erwachsene Person sich verhielt, oder mitunter auch der Fall, wie sehr diese Person auf eine Maßregelung (ohne sich selbst zu exponieren) durch eine vorgespielte Autoritätsperson hoffte. Auch das kam leider vor.
Andere Kinder erlebten Böseres. Und das nimmt diesem maskierten Brauchtum ihre vorgebliche Harmlosigkeit. In dieser ritualisierten Prüfung werden die kleinsten Kinder in der Öffentlichkeit individuell sichtbar gemacht, ihr Verhalten wird für alle beobachtbar auf Abweichungen und Regelverstöße überprüft. „Sie [Anm. die Prüfung] ist ein normierender Blick, eine qualifizierende, klassifizierende und bestrafende Überwachung.“ schrieb Michel Foucault in Überwachen und Strafen 1975.
Später erfand ich unglaubliche Geschichten, die im Nikolaus-Handbuch nicht vorgesehen waren. So brave Kinder kann die Welt nicht erfinden.
Das Ende von Nikolaus
Dann entdeckte das jüngste Kind der Eltern durch Zufall, dass das Christkind in Wahrheit eine Erfindung der Erwachsenen war. Es reagierte derart entrüstet, jahrelang von den Eltern, und der es umgebenden Welt getäuscht worden zu sein, dass beide Elternteile uns vor die Entscheidung stellten: Weiterhin Weihnachten feiern oder es ganz bleiben zu lassen.
Dieses Jahr war das letzte mit einem Weihnachtsfest und einem Nikolausfest.
Wenn wir viele Jahre danach darüber sprechen, erwähnt ein Elternteil regelmäßig welche Erleichterung für ihn diese, von uns Kindern getroffene, Entscheidung bedeutete. Das Weihnachtsgeld, als zusätzlicher Monatslohn oft in Kollektivverträgen vorgesehen, brauchte es für den Schulschikurs oder neue Winterkleidung. Weihnachtsgeschenke und Nikolausgaben hießen am Ende des Jahres überzogene Girokonten und im Jänner Vorladungen in die Bankfiliale.
Klassismus meets Autoritäres Patriarchat meets Anti-muslimisches Ressentiment
Disziplinierende, zwangsweise Nikolausfeiern für jedes Kind zählen seit Jahren zum fixen Ideeninventar von allen am weit entfernten rechten Rand positionierten Politikern in der Nikolaus-Region. Der Osterhase kann diese Funktion, den „normenden, normierenden, normalisierenden“ (Foucault) Charakter einer Nikolaus-Veranstaltung nicht ausfüllen und bleibt von der Instrumentalisierung der Rechten zu seinem und unser aller Glück verschont.
Strafsysteme wirken nach Foucault vergleichend, differenzierend, hierarchisierend, homogenisierend und ausschließend. Mit diesem System von Bestrafung und Ausschluß sollen nach den Vorstellungen der Rechten bereits die jüngsten der Gesellschaft vertraut gemacht werden. Ein erster spielerischer Eindruck ritualisierten Tadels und ritualisierter Belohnung, durch ein Wesen, das von außerhalb des bekannten familiären Umfelds auf dich einwirkt(en darf). Und du lernst: Es ist niemand da, der dich beschützt, der dieser Figur von der du nur Auge und Nase erkennen kannst, widerspricht, sich für dich einsetzt.
Sie wollen dich alleine auf dieser Welt und wenn du im späteren Leben nicht höllisch aufpasst, gleich wie sie zu sein, selbstüberhöhend, feindselig, abwertend und immer auf den eigenen Vorteil bedacht, besuchen sie dich in deinen vier Wänden oder schnappen dich in der U-Bahn. Und du kannst nur ihre Augen erkennen. Statt eines Stocks halten sie eine Maschinenpistole in der Hand.
Von irgendwo tröpfelt dieses Kindheitstrauma in den Sinn. Die Erziehungsanstalt Nikolaus ist nur der Startpunkt der Zurichtung für die Erwachsenen-Welt.
In dieser Welt wird Leistung gegen einen Hungerlohn erbracht, aber die Nehmer sprechen von sich als Leistungsträger. Es wird die Arbeit von Lohnabhängigen genommen und mit Gewinn weiter verkauft, aber behauptet, dass die Nehmenden die wahren Arbeitgeber seien. Sie sprechen von Demokratie, zerstören aber demokratische Spielregeln und propagieren den Ausschluß. Sie beklagen den Hass, säen aber nur Neid und Missgunst. Sie reden über Migrant_innen, wenn Personen vor Krieg, Tod und Verfolgung flüchten. Sie reden von gewalttätigen Migrant_innen, wenn Personen, die vorsätzlich in den Wahnsinn getrieben werden, Verzweiflungstaten begehen. Wenn faschistische Horden, Feminist_innen und antifaschistische Gruppierungen attackieren, wird nicht vor dem aufkeimenden Faschismus in Europa gewarnt oder der brutale Angriff auf Frauen verurteilt, sondern eine Geschichte von ausländischen Konflikten aufgetischt. Sie reden von Werten, verstehen darunter aber eigentlich Geld und Vermögen. Sie empören sich über die täglichen Einzelfälle und besetzen im Wahlkampf dieselben Themen. Sie lügen nicht, sie erzählen bloß eine andere Wahrheit. Sie verkaufen den Menschen nicht die Unwahrheit, denn sie haben die Macht und benutzen sie, um die Welt wie wir sie verstehen sollen, neu zu beschreiben.
Beispiel Integrationsunwilligkeit
Wer von Wien südwärts fährt, Hietzing, Perchtoldsdorf, Mödling wird schnell feststellen, dass in diesen Orten sehr viele Integrationsunwillige leben. PKWs in Wohnwagengröße, Bodenversiegelung durch überdimensionierte Gebäude, die sehr oft mittels meterhoher baulicher Maßnahmen vom öffentlichen Raum abgeschottet sind, sind ein Zeichen demonstrativer Isolation und eine Sabotierung international vereinbarter Klimaziele. Erzählt wird aber von Rudolfsheim oder Favoriten, wo die Integrationsunwilligkeit für alle sichtbar sei.
Nicht erzählt wird, dass Rudolfsheim-Fünfhaus der ärmste Bezirk Österreichs ist und Mödling den reichsten darstellt. Nicht erzählt wird, dass der Autoanteil in Rudolfsheim gering ist, während die aus dem Süden nach Wien gewälzten Kolonnen bereits im unfallfreien Normalbetrieb mit Abgasen, Reifen- und Bremsabrieben, Lärm- und Wärmeentwicklung die Gesundheit der Wiener Stadtbevölkerung schwer schädigen können. Es wird nicht erzählt, dass, wenn Integrationsunwilligkeit ausgepackt wird, eigentlich über Armut und Anderssein gesprochen wird. Armut ist in dieser Mogelbotschaft freilich keine Frage von Erbschaften, sozialen Verbindungen und halb geschenkten Uni-Abschlüssen, sondern mit Eigenschaften wie Fleiß und Morgenmuffeligkeit zusammenhängend. Dabei entsteht ein Mief, der die garstigen Worte, die nun im Raum unhörbar schweben, streng riechbar macht.
Wer nicht zustimmt, gegen diese gewalttätige Ordnung auftritt, die soziale Beziehungen, Klima und die Umwelt zerstören, hat die Prüfung nicht bestanden. Kriminell ist es nach diesen rechten Politiken bereits einen Mistkübel gerade zu richten, wenn gegen die Gefahr des Faschismus auf die Straße gegangen wird, eine Gefährdung der entworfenen rechten Normalität, auf die mit Disziplinierung, Sanktionierung und Abschreckung reagiert wird.
Wer in diese Feindbild-Konstruktion passt, auf die passen auch die Nikolaus-to-Prison-Pipelines.
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https://rotehilfe.wien/repression-gegen-antifaschistische-strukturen-eine-erste-uebersicht/