Der alte Gaul bog langsam um die Kurve zwischen zwei ebenerdigen Häusern. Das eine Haus bildete mit seinem Fundament, das mit einer personenhohen Mauer hintaus Richtung Fluss verlängert war, die sichtbare Grenze zwischen den beiden Grundstücken und ließ auf keine allzu freundliche Nachbarschaft schließen. Die Hufschläge knirschten oder – vielmehr – schliffen nun nicht mehr, als der Wagen von der betonierten Hauptstraße in den unbefestigten Innenhof gezogen war. Der Kutscher hing halb vom Wagen und regte sich nicht, auch dann nicht als das Pferd auf dem winzigen Anwesen halt gemacht hatte.
Der Kutscher, sein Gaul und der Hänger waren für das Dorf zum Gespött geworden. Die Großfamilie schämte sich für Herrn Richard, der spätabends Nacht für Nacht auf die eben beschriebene Weise von seinem Pferd sicher und verlässlich nach Hause gebracht wurde. Herr Richard verdingte das karge Brot für sich und seine Familie indem er Bierfässer in die Gasthäuser der Umgebung transportierte. Mag sein, dass er an den Bierfässern auch persönlich seine Freude hatte oder in den Wirtschaften ein Willkommenstrunk oder zwei auf ihn gewartet hatten. Weil Herr Richard war beliebt gewesen und begann er an schönen Tagen, vermutlich sind damit Stunden gemeint in denen Herr Richard die Schwere seines Lebens besser ertragen hatte, zu singen, wurde die Arbeit und das Getratsche innegehalten und alle schienen in seinen Bann gezogen zu sein.
Herr Richard war also Bierkutscher. Wir wissen nicht, ob der Pferdewagen noch Holzreifen, die vom Wagner des Ortes gefertigt worden waren, bevor dieser auf die Produktion von Schis aus Eschenholz umssattelte, um auf die geänderten Bedürfnisse einer sich etablierenden Wohlstandsgesellschaft zu reagieren, oder mit moderneren Vollgummireifen bestückt war, die von ausgebombten Nazi-Weltkrieg-Wracks abmontiert gewesen waren.
Wir wissen von Herrn Richard im allgemeinen sehr wenig.
Es gibt niemanden mehr, den wir nach Herr Richard befragen könnten. Herr Richard starb sehr früh an einem Leistenbruch, der von seiner schweren Arbeit herrührte. Für den operativen Eingriff war das Geld vorhanden gewesen, denn Herr Richard profitierte vom arbeitslosen Einkommen des Erbens und wurde so zu einem der großen Grundbesitzer des Dorfes. Herrn Richard war sehr viel zugeredet worden, je mehr, desto sichtbarer seine Gedärme aus seinem Bauch herausgequollen waren. Herr Richard, der es vor dem Krieg mehr mit den Hahnenschwanzlern hatte, vertraute auch nach der auch von ihm so empfundenen Niederlage mehr auf die Hilfe Gottes und die Kraft des Gebets, als auf die von hochstudierten Mediziner_innen.
So viel ist uns bekannt.
Aber eigentlich starb Herr Richard viel früher, zu dem Zeitpunkt als sein drei- oder vierjähriger Sohn von der Tafel, so wurde in der Gegend eine Konstruktion über dem Küchenofen genannt, in einen Topf heißen Wassers gefallen war und an den erlittenen Verbrennungen verstarb. Dass Herr Richard mehrere Töchter gesund großzog hatte, hatte ihm nicht über diesen Schmerz hinweg geholfen, erzählten die Leute, die an diesem sexistischen Umgang mit Schicksalsschlägen nichts Falsches sehen konnten.
So tragisch und vermutlich sonst recht eintönig das Leben von Herrn Richard verlief, so viel Schande er über seine gesamte Verwandtschaft mit seinem Sich-Gehen-Lassen er auch gebracht hatte, so viel Unterhaltung bot er zu der Zeit der heranwachsenden Dorfbevölkerung, die ansonsten nichts Lustigeres gekannt hatten, als geläuterten Nazis beim eifrigen Kirchgang zuzusehen. (Niemensch hatte zuvor von irgendetwas irgendwas gewusst)
Es war meistens schon finster geworden als das Pferd von Herrn Richard antrabte. Die meist männlichen Jugendlichen hatten schon längere Zeit gewartet, schnappten das Geschirr des alten Gauls und entführten Pferd und Kutscher an einen einsamen Ort. Dann hatten sie Herrn Richard geweckt, der nicht verstand, wo er gelandet war. Das war ein Spass gewesen. (Gelächter bei den Erzählern)
Eines Abends. Herrn Richards Ankunft war wie immer, und wie immer etwas spannungslos, erwartet worden, passierte etwas anderes. Der Gaul hatte ruckartig angehalten. Mehrere Ratten griffen zuerst das betagte Pferd an, sprangen weiter auf den Bock und überfielen den Kutscher. Die meist männlichen Jugendlichen ergriffen die Flucht. Aus Erfahrung wussten sie, dass eine Horde Ratten, wenn erst einmal bereit zum Angriff, entschlossen und zielstrebig vorgeht. (Würden wir Menschen sagen)
Noch vor meinen per Ansichtskarte versendeten Urlaubsgrüßen, deren Sinnhaftigkeit mehr in einer Art Lebenszeichen aus der Vergangenheit bestand, kehrte ich nach langer Reise so bankrott zurück wie zum Zeitpunkt meines Aufbruchs. Du erzählst Oberflächliches von deinen Erlebnissen und vermeidest vielsagend Dinge, die nicht für die zuhörenden Ohren bestimmt waren. (Klappt im Besonderen mit fantastisch-absurden oder aber gruseligen und dennoch harmlosen Zutragungen)
Irgendwann landete ich auf dieser griechischen Insel von deren Hauptstadt aus ein Ausflugsboot Urlauber_innen zum Badestrand gebracht und wieder abgeholt hatte. Wer für gewöhnlich ohne Geld unterwegs ist, erkennt sofort die Chance: Du findest sicher Essen und dem gefüllten Bauch ist eine menschenleere, ruhige Nacht vergönnt.
Das Abend-Boot war gekommen, die Touristen stiegen ein. Ich schüttelte den Kopf. Nein, ich komme nicht mit. Ein Hotelklotz reiht sich an den nächsten. Russische Urlauber_innen tippseln Urlaubsgrüße in ihre Phones. Heute ein privater Hotelstrand. Damals ein Strand für alle und für mich. Allein. Meereswellen plätschern sanft über den flachen Sandstrand. Ein leises Quietschen dort, und von dort bei den Büschen. Der Sternenhimmel so unglaublich kar und nah. Ich war eingeschlafen. Es quietschte ganz nah an meinem Ohr. Auch an der anderen Seite. Am Ende des Schlafsacks befand sich etwas und es huschte davon. Hinter mir, rund um mich: Riesige Ratten. Es waren unglaublich viele. Ich versuchte, sie zu verjagen, sie hauten ab. Endlich wieder eingerollt, der Schlafsack unangenehm heiß und klebrig. Das Quietschen der Ratten hörte ich nun da, dort, dort. Erschöpft und hellwach und aufgekratzt lag ich da. Der Sternenhimmel, WTF. Ich war eingeschlafen. Die Ratten laufen jetzt über mich, überall. Auf Handschläge reagieren mehrere gleichzeitig mit Beißversuchen. Dein Schlafsack eine Zwangsjacke. Es war die Hölle.
Deine verrückte Geschichte kam für die Zuhörenden zu einem enttäuschenden Ende ohne einem wirklichen Drama. Doch dann fiel einer Person Herr Richard, den alle gekannt hatten, ein. Das abgearbeitete Pferd, das spätabends immer die betonierte Straße müde herunter getrabt kam, bis eines Tages… (Männerlachen)
Grauenhaft, wenn Rechtsextreme erzählen dürfen, dass die Berichte von Ärzte ohne Grenzen auf Lesbos oder Samos, Fake sind, nie und nimmer geflüchtete Menschen in europäischen Elendslagern auf griechischen Inseln von Ratten gebissen worden sind. (Gelesen im Kommentarbereich auf derstandard.at)
Die Bösartigkeit von Ratten ist beinahe so unterirdisch wie die der Rechtspopulist_innen. (Denke ich)
Oh wait.
Ratten sind nicht bösartig. (Ratten sind keine Menschen)