Ein paar Steine im Wasser. Die Nacht ist finster und eiskalt. Vorsichtig wird ein Fuß nach dem anderen, von einem Stein auf den nächsten Stein gesetzt. Ein Schmugglerpfad? Drüben, am anderen Ufer, wartet Sicherheit und es warten Grenzwächter, die gegen den Willen des Gesetzes handeln.
Zuerst kamen die Leute an die Schweizer Grenze, die über Vorarlberg nach Spanien wollten, um an der Seite der Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg zu kämpfen. Die Österreicher_innen unter ihnen waren gezwungen, im Austrofaschismus in den Untergrund zu gehen. Die Rote Hilfe, Kamerad_innen und Genoss_innen versteckten sie, gaben ihnen zu essen und halfen mit allem, was sie hatten und leisten konnten, unversehrt und unerkannt das klerikalfaschistische Österreich zu verlassen und den „kurzen Sommer der spanischen Anarchie“ gegen den drohenden Franco-Faschismus zu verteidigen.
Die Zeiten damals waren hart. Das Land quoll über mit Adressenlosen, Staatenlosen aus dem 1. Weltkrieg, Flüchtlingen aus den ehemaligen Kronländern der österreichischen Monarchie, die plötzlich kein Staat mehr haben wollte und von einer Grenze zur nächsten hin- und hergeschoben wurden. Es gab keine Arbeit, keine Lebensmittel. Bettelei und Schmuggel waren die einzige Chance, das Überleben von einem Tag zum nächsten sicherzustellen. In dieser katastophalen Situation setzte vom Osten her eine Migrationsbewegung ein. Zuerst kamen die Spanienkämpfer_innen, später wohlhabende Jüdinnen und Juden, die eine böse Ahnung davon hatten, was noch kommen sollte. Wenngleich ihre Vorstellungskraft wahrscheinlich nicht ausreichte, um zu erahnen, wie tief menschliche Abgründe tatsächlich reichen können. Mit dem Novemberpogrom im Wien des Jahres 1938 flüchteten alle, die irgendwie konnten. Darunter waren Hilfsarbeiter_innen und Schauspieler_innen, Sattler_innen und Zahnärzt_innen. Wie bei uns, sagt Polizist Ernst Kamm.
Was die Spanienfreiwilligen anlangte, waren sie alle einer Meinung. Der neutrale Schweizer, der deutsche Gestapo und der austrofaschische österreichische Beamte. Anlaufstellen der Antifaschist_innen wurden in grenz- und ideologieüberschreitender Zusammenarbeit ausgehoben, Menschenschmuggler_innen hier wie dort verfolgt. Die Spanienkämpfer_innen in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt, auch wenn dort Gefängnis, Konzentrationslager oder der Tod drohten.
Diese gnadenlose Haltung begann sich langsam zu ändern, als die ersten jüdischen Flüchtlinge, gebrechliche alte Frauen und Männer, die die Schlepper gegen wenige Mark am Rücken durch den Alten Rhein trugen, Frauen mit Kleinkindern, kranke, traumatisierte und Menschen mit Misshandlungsspuren an der schweizerischen Grenze um Aufnahme baten.
Ein interner Polizeibericht vermerkte damals lakonisch: „Es konnte festgestellt werden, dass bei Versuchen jüdischer Emigrant_innen, auf illegalem Weg nach der Schweiz zu gelangen, auch Organe der St. Gallischen Kantonspolizei Hilfsdienste leisteten.“
Es sind keine übermenschlichen Held_innen, die diese sogenannten „Hilfsdienste“ leisteten.
Der Schweizer Regierungsrat Valentin Keel wünschte sich, wie in einem Protokoll nachzulesen ist, „eine Verstärkung der Grenzkontrolle“ und leistete zur selben Zeit aktiv Fluchthilfe indem er „gegen alle sonstigen Verfügungen und Vorschriften, die sofortige Weiterreise nach Zürich ermöglichte“.
Oder etwa Polizeihauptmann Paul Grüninger. Grüninger bezweifelte die Motive der Flüchtenden, „viele, die sich politische Flüchtlinge nennen“, fügte aber gleichzeitig hinzu: „Rückweisung? Geht schon vom menschlichen Standpunkt aus nicht. Wir müssen viele hereinlassen“.
Um „viele hereinlassen“ zu können, musste Grüninger nicht nur erfinderisch sein, wenn er beispielsweise Briefe mit dem Ersuchen bei der Visaausstellung behilflich zu sein, formal ablehnte, andrerseits aber die Person, die keine Einreisebewilligung erhielt, zwecks Einvernahme nach St. Gallen in der Schweiz vorlud, sondern er musste auch gegen das geltende Gesetz verstoßen. Wenn er z.B. das Datum des Aufenthalts nachträglich vorverlegte, nämlich vor die Einführung der Visumspflicht für österreichische Staatsbürger_innen. Oder in unglaublicher Kompetenzüberschreitung Ausweise ausstellte, die zur Aus- und Wiedereinreise in die Schweiz berechtigten, um im Ausland den weiteren Fluchtweg zu organisieren.
Grüninger schrieb nicht nur Vorladungen in die Schweiz, sondern versandte auch Reiseeinladungen in die Schweiz. Etwa an Jüdinnen und Juden, die ins NS-Lager Dachau verschleppt wurden. Mit diesen Einreiseeinladungen in die Schweiz stiegen die Chancen einer „Entlassung“ für in den Vernichtungslagern festgehaltene Jüdinnen und Juden erheblich.
Kurz vor seiner Absetzung sagt Polizeihauptmann Grüninger: „Ich gebe ohne weiteres zu, dass in einigen Fällen solche Schreiben, die in erster Linie den Zweck hatten, Inhaftierte zu befreien, erlassen wurden.“
Paul Grüninger rettete mit seiner Widerständigkeit gegen legales Unrecht 3.600 Menschen das Leben. 1939 wurde er vom Dienst suspendiert. Ein Jahr darauf wurde er zu einer hohen Geldstrafe verurteilt. Zwanzig Jahre später befürchtete Paul Grüninger, er solle für alles, was er getan habe, bestraft werden. 1995 wurde Hauptmann Grüninger posthum von einem St. Galler Gericht rehabilitiert.
„Was ich gemacht habe, würde ich wieder tun!“, schrieb Paul Grüninger in einem Brief, den er mit gemeinsam mit Ernst Kamm unterzeichnete. Ernst Kamm sagte dazu in einem Interview, das im Jüdischen Museum Hohenems gezeigt wird : „Er sagt also, er würde wieder tun, was er gemacht hatte. Auch die Fehler, das Gesetz, das er nicht übertreten hätte dürfen.“ Man spürt Kamms inneres Kopfschütteln. „Gegen den Willen des Gesetzes sein, ist ein schwerer Standpunkt.“
Im Frühjahr 2012 wurde die Grenzbrücke, die Diepoldsau mit Hohenems verbindet, auf Initiative der grünen Politiker Meinrad Gschwend und Bernd Bösch in Paul-Grüninger-Brücke benannt. Davor war sie eine Brücke ohne Namen.
Lesetipps:
Stefan Keller: Grüningers Fall, Geschichte von Flucht und Hilfe, Rotpunktverlag.
02 Die Interviews, Edition Museumstexte, Jüdisches Museum Hohenems.
Links:
Wikipedia-Eintrag Paul Grüninger
Webseite der Paul-Grüninger-Stiftung
WOZ-Artikel zur Paul-Grüninger-Preisträgerin 2011 Daniela Stirnimann-Gemsch