Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft. (Johann Gottfried Seume, 1805)
Die Erfindung des Rads wird oft als der technologische Startschuss in eine neue, bessere Welt hingestellt. Nun werden die Räder aber zur Qual. Und gutes Rad in jeder Hinsicht teuer.
Ein Plädoyer für das Gehen
Vier Räder tragen das Automobil. Wer nicht sparen muss, darf sogar fünf durch die Gegend kutschieren. Wer noch weniger sparen muss, darf seinen Reichtum an der Heckklappe seiner militaristischen Karosse zur Schau stellen.
Arbitrary!
Das Automobil verpestet die Städte. Nicht nur die Luft, sondern auch den öffentlichen Raum. Selbst dann, wenn das Automobil mal Pause macht.
Das Automobil ist seinem Wesen nach autoaggressiv. Es verletzt nicht nur Menschen und reihenweise Bäume, sondern auch sich selbst.
Das Automobil ist eine One-Vehicle-Show. Sind viele unterwegs oder pausieren mal, machen sie sich gegenseitig das Leben schwer.
„Wo Alles zu viel fährt, fährt Alles sehr schlecht, man sehe sich nur um.“ (Johann Gottfried Seume, Mein Sommer 1805)
Vor mehr als 20 Jahren untertitelte das Umweltmagazin „natur“ den Leitartikel „Stadt ohne Auto“ so: „Eine Utopie wird wahr. Weltweit gehen die Städte daran, dem Auto die Sympathie aufzukündigen. Sie errichten Schutzwälle gegen die Blechlawinen, verwandeln Asphaltschneisen in grüne Boulevards und statt neuer Rennbahnen entstehen Wohn- und Spielstraßen. Parkplätze werden wieder zu Parks und Plätzen. Autogerechte Metropolen könnten bald menschenwürdige Gemeinden sein. Die Chancen standen schon lange nicht mehr so gut.“
Seitdem flossen viele Millionen Tonnen Rohöl die Pipelines rauf, ohne dass sich im Paradigma der autogerechten Stadt etwas Grundlegendes geändert hat.
Doch die Chancen auf eine Stadt ohne Auto standen schon lange nicht mehr so gut.
Die Signale in Wien sind zweideutig
Die rot-grüne Stadtregierung kann sich nicht klar entscheiden, welche Prioritäten in der Stadt- und Verkehrsplanung gesetzt werden sollen.
Mit der seltsam heiß bekämpften Parkraumbewirtschaftung zieht Wien lediglich auf europäisches Niveau nach. Die Zahl der Parkplätze in der Stadt wird deswegen aber nicht verringert und somit auch nicht die Zahl der Kraftfahrzeuge, die sich von diesen magisch angezogen fühlen. Eine City-Maut nach skandinavischem Muster wurde von Rot-Grün ohnehin nie ernsthaft erwogen.
Ein verkehrspolitisches Gesamtkonzept mit den Bewohner_innen zu erarbeiten, zu präsentieren und zu diskutieren, ist auch 2012 kein demokratiepolitsches Anliegen der Kommune Wien.
Stattdessen wird mit zweifelhaften (legalen) Mitteln einerseits und nicht vorhandenen (finanziellen) Mitteln andrerseits ein sinnloses, unnötiges Autorennbahnprojekt durch den Nationalpark Lobau voran getrieben.
Wem nützt es?
Wer sind die Nutznießer_innen einer Politik, die dem ungehemmten motorisierten Individualverkehr in Zeiten von Peak Oil und Verkehrskollaps immer noch das Wort redet?
Nachdem wir aus dem schlechterdings abgewürgten parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Korruption aus dem Innersten der Republik bestätigt erhalten haben, dass auch in Österreich die wirtschaftliche und die politische Elite aufs Unerträglichste miteinander verwoben sind und im gemeinsamen Verband ungeniert und mit provokanter Unschuldsmiene öffentliches Eigentum an „Freunde“ und „Freundinnen“ verhökert, drängt sich dem Publikum die nur allzu berechtigte Frage auf: Wem nützt es?
Unnötige und sinnlose Megabauprojekte florieren trotz leeren Kassen in den öffentlichen Haushalten europaweit, WIE etwa das Hochgeschwindigkeitsbahnprojekt TAV im piemontesischen Val di Susa. Gegner_innen dieses Projekts werden nicht müde, auf die möglichen Einflüsse der Mafia hinzuweisen.
Verlorene Deutungshoheit
Die Aufgabe ist zugegeben nicht einfach: In einem konservativ bis schlimm reaktionär politisierten Medienumfeld die inhaltlich maßgeblichen Nachrichten zu transportieren.
Nicht die Verscherbelung der Gemeingüter bleibt nach dem Ausschuss im Kopf, sondern die Schaltung von Polit-Inseraten. Nicht das Bewusstsein „Keine Stadt ist eine autogerechte Stadt oder sie ist keine Stadt“ wird geschärft, sondern eine Nummerntafelpflicht für Fahrräder und das flegelhafte Benehmen von „Radrowdies“ sickern ins öffentliche Hirn.
Wollen wir seriös Ursachenanalyse betreiben, steht fest: Schuld ist das Rad. Es kennt keinen Anfang und kein Ende. Wo es erfunden wurde, herrscht seither Krieg. Alle großen Kriege bauten auf der Erfindung des Rades auf. Mit der späten Erfindung des Zahnrades wurde die Zeit erfunden und mit dem tickenden Code der Zeit in der Hosentasche eine herrschende, zeitbewusste Klasse.
Mensch kann das Rad der Zeit nicht zurückdrehen, aber wir können uns, wenn wir es nur fest genug wollen, in jede mögliche Epoche beamen.
Johann Gottfried Seume schrieb im Jahr 1805:
„Mann kann fast überall bloß deswegen nicht recht auf die Beine kommen und auf den Beinen bleiben, weil man zu viel fährt. Wer zu viel in dem Wagen sitzt, mit dem kann es nicht ordentlich gehen. So wie man im Wagen sitzt, hat man sich sogleich einige Grade von der ursprünglichen Humanität entfernt. Mann kann niemand mehr fest und rein ins Angesicht sehen, wie man soll. Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft. Schon deswegen wünschte ich nur selten zu fahren, und weil ich aus dem Wagen keinem Armen so bequem und freundlich einen Groschen geben kann. Wenn ich nicht mehr zuweilen einem Armen einen Groschen geben kann, so lasse mich das Schicksal nicht länger mehr leben!“
Was tun, frage ich also radlos meine*n stets zuversichtliche Maschinenstürmer*in: „Arme stärken, alle Räder anhalten.“