In Erwägung, dass Herr Steinböck in absehbarer Zeit seine finanziellen
Angelegenheiten nicht bereinigen kann, wurde beschlossen, ihn in die
Pflicht zu nehmen.
Es scheinen keine Ewigkeiten vergangen zu sein, als sich mal hier, mal dort, ein Herr mit grauem Hut am Straßenrand aufhielt, mehr einen Schritt auf der Fahrbahn zu viel als tatsächlich am Rand. Energisch streckte er den Automobilist_innen seine Hand vor die Windschutzscheibe, fuchtelte herum, sein Gesicht, von Natur aus kein freundliches, verfinsterte sich, wenn die vorbei donnernden Kraftfahrzeuge ihr Tempo nicht verringerten.
Aus dem Auto heraus verspürte man, dass sich das Gaspedal willkürlich nach unten bewegte, wenn sich am Straßenrand, mehr schon in der Mitte des Fahrstreifens als am Rand, ein Mann mit Hut abzuzeichnen begann. Wir waren damals zu jung, um am Steuer zu sitzen, aber auch angezurrt an die Rückbank, drückten wir alle Füße fest gegen den Boden. Dann warfen wir unsere Köpfe herum, lachten erleichtert und spotteten über den Mann mit Hut, der jetzt kein Halten mehr kannte, seine Fassung jedem nicht anhaltenden Auto hinterher warf, wohl brüllte er auch unschöne Worte in die hinterlassenen Luftwirbel.
Herr Steinböck stand zu jenen Zeiten auf den Landstraßen, die sich neben den großen Ausfallsstraßen aus der Stadt ins flache Land hinaus streckten. Seine Geschäfte, deren Felder niemand genau kannte, passten in eine ausgebeulte gräuliche Aktentasche. Allgemein herrschte die Vermutung vor, dass der Handlungsreisende Steinböck seine Geschäfte irgendwo entlang den Landstraßen verfolgte, er ihnen aber nicht in der geforderten Geschwindigkeit nachkam. Aber wie sollte er, der Handlungsreisende schnell genug sein, in einem Alter, in dem seine früheren Schulfreunde Ausflüge auf den Semmering oder nach Maria Dreieichen unternahmen, mit dem eigenen PKW, angeschafft aus der Abfertigungszahlung, die in der damaligen Zeit nach einem langen Arbeitsleben, auf das Girokonto überwiesen wurde, Herr Steinböck ohne eigenen Wagen, auf die Transportbereitschaft anderer Verkehrsteilnehmer_innen bedingungslos angewiesen. Herr Steinböck war auf der Verliererspur, und der Grund dafür lag nicht hintergründig an seinem Alter. Daran hatten wir, hinten, im Fonds der elterlichen Limousine sitzend, nicht den geringsten Anlass zum Zweifel. Manchmal, einmal höchstens, passierte es, dass wir einer übermütigen Laune freien Lauf ließen und unsere zart rosenen Zungen soweit wir konnten heraus streckten, am besten punktgenau, wenn unser Auto und Herr Steinböck auf gleicher Höhe waren. Diese Synchronität erforderte einiges Geschick und regelmäßige Übung. Ohne Kenntnisse der Physik, vielmehr instinktiv erahnend, welche Geschwindigkeit das sich bewegende Objekt, wie die Entfernung zu dem am Rand, eher nahe daran, verweilenden Subjekt und wann der genaue Zeitpunkt, wann exakt sind Ob- und Subjekt gleichauf, Zunge raus!, rückblickend und ohne Stolz: das waren gelungene grenzgeniale Boshaftigkeiten aus der harmloseren Abteilung.
Der Handlungsreisende Steinböck lebte zu dieser Zeit mit einem kleinen Handicap. Er war so gut wie immobil und das kam vielleicht so, so ungewünscht wie wahrscheinlich einfach, möglicherweise etwas anders und verquerer. Wie auch immer, Herr Steinböck verbrachte den Teil seines Lebens, den manche um „Abend“ ergänzen würden, fortan, nur so viel vorweg zu den Folgen, auf der Landstraße, gestikulierend, den Mund weit geöffnet, unter der Hutkrempe erinnerungswerte Augenhöhlen, tief in ein aschfahles Gesicht eingegraben, allein mit seinem Zorn auf die unsoziale Motorwelt. Herr Steinböck konnte zu dem Zeitpunkt als so gut wie besitzlos bezeichnet werden.
Der Handlungsreisende Steinböck besaß, mit Ausnahme einer ausgebeulten Second Hand-Flohmarkt-Aktentasche, in der seine komplette Geschäftswelt zu passen schien, einem mit seiner Gesichtsfarbe hervorragend abgestimmten grauen Staubmantel, an beiden Ellbogen etwas ausgebeult, so gut wie gar nichts. Die immer mitgeführte Aktentasche harmonierte ausgezeichnet mit der groß gewachsenen, hageren Erscheinung. Seine Aktentasche vermittelte den Rest der Beständigkeit, die jedes Leben in gewisser Weise und in einem Mindestmaß braucht, vor allem dann, wenn die Welt stürmisch an der Existenz rüttelt.
Das war nicht immer so, daran bestanden keine verurteilenden Zweifel. Die Geschäfte liefen nicht großartig, aber wie von unsichtbarer Hand geleitet. Der Handlungsreisende Steinböck reiste damals mit seinem Auto zu seinen Geschäftspartnern. Die Biederkeit, die der Beruf des Handlungsreisenden zwingend erfordert, übertrug sich im Laufe der Jahre auf seinen Wagen, einem Produkt des Unternehmens Société Industrielle de Mécanique et Carosserie Automobile, einem Simca 1501, gut möglich, dass es in Wirklichkeit ein Opel Kadett war, eine mobilitätsgewordene Fantasie des deutschen Biedermanns. Aber Simcas Niedergang als Chrysler France bis tief unter die Asphaltdecke vollzog sich in gleicher atemberaubender Geschwindigkeit wie die unseres Protagonisten. Opel war im direkten Vergleich ungleich untalentierter und brauchte dafür Jahrzehnte, wie sich im nächsten Jahrtausend heraus stellen sollte, deshalb neigen wir zu der Annahme Simca 1501. Oder ein 1301, falls schon schlimmere Anzeichen der Illiquidität in der Handkassa des Herrn Steinböck festzustellen waren.
Spätere Berichte motorisierter Verkehrsteilnehmer_innen, die ihn flüchtig, aus dem Augenwinkel heraus, sozusagen im Vorbeifahren kennen lernten, zeugen davon, dass der Handlungsreisende eine fatale Neigung unbekämpft ließ: Er liebte es über alle Maßen über seine Verhältnisse zu leben, privatökonomische Verhältnisse, die wenige Wünsche ermöglichten. Selbst die wenigen, verbliebenen Wunschfreiheitsgrade unterlagen einem krankhaften Schwund. Herr Steinböck war dabei, frontal an die Wand zu fahren, bildlich, also eigentlich finanziell gesprochen.
Seine geschäftlichen Erfolge, deren Grundlage unbekannt blieben, waren mehr als bescheiden, munkelten die Erwachsenen. Eine exotische französische Limousine, damals noch nicht aus 100 Prozent Atomstrom hergestellt, oder war es doch diese Wirklichkeit gewordenene apokalyptische Prophezeiung in Form einer westdeutschen Biedermannskiste, die dem damaligen Systemgegner zeigen sollte, wo die Welt 2011 stehen wird, konnte nicht auf realen Grundlagen erwirtschaftet worden sein, zumindest so viel galt als gesichert. Aber der Handlungsreisende hatte höher gelegte Visionen von einem erstrebenswertem Leben. Sein ebenerdiges Häuschen, in dem seine Gattin, eine kräftige Frau mit energischen Wellen in einem kugeligen Kurzhaarschnitt, ein verstecktes, beinahe schon klandestines Leben führte, wollte eine kleine Behausung, die das Kraftfahrzeug effizient vor elementaren Ereignissen schützt. Das Kleinhäusleranwesen lag nicht ungünstig an der Hypothenuse eines spitzwinkelig dreieckigen Platzes in den an jeder Ecke eine Straße mündete, der Kaufmannsladen von Herrn Bartonek lag schräg vis-à-vis. Vor dem Laden posierte auf einer stählernen Konstruktion der Zwilling eines von uns heftig frequentierten Kaugummiautomaten. In der Mitte des Platzes, umfasst mit dahin vegetierenden Rosenbüschen, brachte das fadisierte Tröpfeln einer vorstädtischen Springbrunnenvorstellung Leben und auch etwas Frische in einen sengend heißen Augustnachmittag. Kaufmann Bartonek, hatte in der sommerlichen Bruthitze sein Geschäft geschlossen und an einem Nachmittag der Woche ganz. Die Bitumendecke der Straßen begann zu fließen und wir drückten, wo ging, unsere Zehen in die plastische Masse als wäre es für amtliche Ausweise, die unsere Identitäten über die Nachwelt der Straßenbauaktiengesellschaft hinaus eindeutig festlegen sollten.
An der Fluchtlinie an dem ostseitigen Ende des Steinböckschen Anwesens, dort wo schon bisher das Gartentor den unbefestigten Weg zum Hintaus frei gab, erfolgte flink ein Zubau, und vielleicht weil ein paar Ziegel und ein Sack Zement übrig blieben, wurde ein Geschoß auf das ebenerdige Gebäude gesetzt, Konstruktionen die heute noch am stadtauswärtigen Ende der Wiener Kaiserebersdorfer Straße hoch im Kurs stehen. Der draufgesetzte Rohbau bildete lange Zeit eine klaffende Wunde im örtlichen Ensemble. Herr Steinböck konnte nicht weiter, so viel stand fest. Die Metzgerei Baumgartner einige Schritte nebenan konnte, auch das Schuhgeschäft Wiry konnte, das gut besuchte Gasthaus König sowieso und daneben das Kleine König, eine schmalspurige Version des Gasthaus König gleichen Namens, konnten ebenfalls mühelos Aufstocken und in baumeisterlicher Vollendung schmucken Rieselverputz auf das wundrote Ziegelwerk auftragen. Steinböcks Verhältnisse aber rieselten – die Verputzarbeiten wurden auf bessere Zeiten verschoben.
Der Handlungsreisende Steinböck stand vor den angehäuften Trümmern seines mobilisierten Lebens. Die lokale Bank bestand auf Tilgung der Kreditraten, um sein Gewerbe wieder auf eine solide Basis zu stellen, und der Übergabe seines Ford Cortina, einer attraktivierten deutsch-amerikanischen Mutation des Simca 1501, die bei der Versteigerung vor dem Garagenzubau einen besseren Preis erzielen würde. Vielleicht war es auch ein Vauxhall, mit nur geringem Anteil an Atomstrom-DNA aus Windscale.
Im Wendekreis des Steinböcks begannen sich wirre Gedanken zu tummeln. Er hatte seinen Kerouac nicht gelesen und strich trotzdem mittellos über die Nebenstraßen des Landes. Geschäftig, wenn auch vermutlich unbeschäftigt, anlassbezogen zornig und immer verbittert. Der Handlungsreisende Steinböck wurde gezwungen alles zu geben, selbst das, was er nicht besaß. Diese Zwangsmaßnahmen, auferlegt von einem vermutlich sexbesessenen Schuldenexperten und passionierten Porschefahrers, legen die Grundlagen seiner finanziellen Konsolidierung, behaupteten sie.
Frau Steinböck erhielt kurz darauf ein Armenbegräbnis. War es Gram oder Scham, vielleicht, wahrscheinlich beides. Völlig allein gelassen, ohne Perspektive, geächtet und eines mangelnden Gemeinsinns bezichtigt, konnte sie es nicht mehr ertragen.
Der Konkurs über das Häuschen und dem gepflegten Gartengrundstück, das weniger nach ästhetischen Gestaltungsprinzipien als denen eines reinen Nutz- und Zweckgartens angelegt war, wurde eröffnet. Noch bevor der Masseverwalter das Verfahren abschließen konnte, verschwand der Handlungsreisende Steinböck spurlos im versponnenen Netzwerk der europäischen Überlandstraßen. Von ihm blieb nicht mehr als diese Erinnerung.
Zehn Jahre später stand ich in einer lauen Sommernacht an einer Landstraße im Rhônetal. Wild fuchtelte ich mit meiner rechten den vorbei donnernden Lastwagen in das grelle Scheinwerferlicht, die Luft erfüllt von schwerem Lavendelduft und im dunkelblauen nächtlichen Himmel lagen schwer die mächtigen Dampfschwaden der Kernkraftwerksmeiler.
Ich glaube sogar, ich trug einen grauen Hut.