In einer Woche werden levantinische Schiffssirenen vom Meer gegen die Bergwände heulen. Und vielleicht ziehen aus dem Osten heruntergekommene Wirtschaftsflüchtlinge über die Calanques, um symbolisch auf die Gründung der kleinasiatischen Kolonie Massalia, des heutigen Marseille, hinzuweisen. Damit ist das Europäische Kulturhauptstadtjahr 2013 eröffnet.
Marseille, la cité phocéenne, wie die Marseiller_innen die Stadt gerne bezeichnen, zeigt gerne auf seine historischen Wurzeln. Marseille manifestiert seit seiner Gründung den Knoten verschiedenster Kulturen und Zivilisationen zwischen Asien, Afrika und Europa.
Das macht die Mittelmeermetropole lebendig, vielgestaltig, offen – und liebenswert.
Es ist unvorstellbar, in Wien ins Kaffehaus zu gehen und dann vor einem Plakat zu sitzen, auf dem bunte Reisebusse und Lokomotiven aufgedruckt sind, mit dem Titel: Wien, der nördlichste Verkehrsknoten des Balkan. In Marseille ist aber genau das möglich. Zum Beispiel im Bistrot des 2 filles. Am echten Plakat ist Wien freilich durch Marseille, der Verkehrsknoten durch Hafenstadt und der Balkan durch Nordafrika, und sind die Busse durch Schiffe zu ersetzen.
Es ist anscheinend ein leichtfüßiger Umgang, den die Marseiller_innen mit ihrer Vergangenheit und Gegenwart pflegen, und der nur unter der Voraussetzung möglich ist, dass eine Stadt einen scharfen und ehrlichen Blick auf sich selbst werfen kann.
Bernard Latarjet, der für die Bewerbung Marseilles als Kulurhauptstadt 2013 hauptverantwortlich zeichnete, kehrt in einem Interview mit Le Journal des Rencontres d’Averroes eben dieses europäisch-mediterrane Selbstverständnis als den Grund für die Zuerkennung hervor. Dieser Zugang solle sich auch in jeder Veranstaltung widerspiegeln, betont er. Latarjet sieht die Bedeutung von MP2013 – siehe oben -nicht nur im Feiern von Festen und dem Megaevent, sondern auch als Gelegenheit und Auftrag nachzudenken, die entwickelten Ideen zu debattieren, zu reflektieren.
Das machen die Marseiller_innen schon heute und seit gestern.
Gestern etwa Boris Grésillon, Geograph und Dozent an der Universität der Provence, der vor einem Jahr das Buch Un enjeu ‚capitale‘ (in etwa: Ein kapitaler Einsatz, bitte wortspielen) veröffentlichte. Grésillon warnte damals davor, das Kulturhauptstadtbudget zur Gänze für die strategische Entwicklung und Erneuerung Marseilles zu verwenden (Stichwörter: Euroméditerranée / MUCEM). Die weit über die Stadtgrenzen bekannte Off-Theaterszene leide bereits massiv unter den Subventionskürzungen, die Lage der meisten Initiativen sei prekär, und Schließungen gerade im Kulturhauptstadtjahr 2013 schwebten als Damoklesschwert über den Künstler_innen und Kulturarbeiter_innen. Thomas Schaffroth berichtet in der aktuellen WOZ, dass als Folge der Austeritätspolitik des Sozialisten Hollande dieses Szenario, der Zusammenbruch der unabhängigen Theater, jederzeit eintreten kann.
Aus Protest gegen die finanzielle Aushungerung örtlicher Kulturinitiativen ketteten sich 2011 der Schriftsteller Michel Butor und der Dramatiker Fernando Arrabal am Place de Bastille an.
Heute denken die Marseiller an das Morgen.
Die Marseiller Kulturzeitschrift Le Ravi berichtet in ihrer Dezember-Ausgabe vom aktuellen Scheitern, die HipHop-Stars IAM für MP13 zu verpflichten. Jacques Pfister, Handelskammerpräsident und Vorsitzender der Association Marseille-Provence 2013, betonte immer wieder die Wichtigkeit eines Kulturhauptstadtjahres – aus Gründen des banalen Standortwettbewerbs. Doch Pfister höchstpersönlich scheiterte daran, IAM für einen Riesen-Gig „wie Paul McCartney auf der Anfield Road“ zu gewinnen. IAM seien gerade mit ihrem neuen Album beschäftigt, ließen sie ausrichten.
Dazu muss man allerdings wissen, dass IAM in Zusammenarbeit mit dem Grand Théâtre de Provence ein Projekt zum 100. Geburtstag des Atheisten Albert Camus geplant hatten.
MP2013 konnte das Vorhaben allerdings in seinem rund 600 Millionen schweren Budget nicht unterbringen.
Le Ravi-Kommentator Michel Gairaud fürchtet angesichts des europäischen Kürzungswahns und des Superwahljahres 2014, dass nach dem ephemeren großen Fressen die lange Zeit einer kargen Diät ausbrechen wird.
Kritische Marseiller_innen stehen dem Spektakel, das einst erfunden wurde, um eine_n europäische_n Citoyen_ne heranzubilden, ziemlich eindeutig gegenüber:
„Von den lokalen Kunstschaffenden wurde kaum jemand eingebunden. Die Künstler_innen werden aus Paris oder sonstwoher eingeflogen und danach sind sie wieder weg. – Das ist alles.“