Santiago Sierras Black Cone – ein Monument für den zivilen Ungehorsam

The Black Cone Monument to Civil Disobedience, Reykjavik Iceland
The Black Cone Monument to Civil Disobedience, Reykjavik Iceland

Die Abweichung von der Norm interessiert selbst die Geometrie. Liegt die Kegelspitze nicht in der Mitte der oder gar außerhalb der Kegelgrundfläche, wird auch ein Kegel spannend. Als der Künstler* Santiago Sierra seine Version des schwarzen Kegels entwarf, interessierte ihn weniger deviante Geometrie, sondern der schlaue Einsatz physikalischer Kräfte: Wo und wie kann angesetzt werden, um einen massigen Felsbrocken mit intelligent eingesetzter Kraft zu spalten. Sierra versteht diesen Prozess durchaus politisch.

Santiago Sierras schwarzer Kegel referenziert explizit auf eine der zahlreichen dunklen Seiten der ‚Errungenschaften‘ des christlich-fundamentalistischen Abendlands: Die demütigenden, kegelförmigen Kopfbedeckungen, die die Opfer der spanischen Inquisition tragen mussten.

In einer Performance, die am 20. Jänner 2012 vor dem isländischen Parlamentsgebäude startete, wurde der schwarze Gesteinsbrocken mittels weniger Keile ganz langsam zerteilt. Der 20. Jänner 2012 markierte den dritten Jahrestag jenes Tages, an dem das isländische Parlament aus dem Weihnachtsurlaub zurückgekehrt und von einer wütenden Menschenmenge empfangen worden war. Wenige Tage später war die Regierung zurückgetreten. An den Black Cone schraubte Sierra eine Tafel mit dem eingestanzten Artikel 35 der Erklärung der Menschen- und Bürger*rechte der französischen Verfassung vom 24. Juni 1793:

„Wenn die Regierung die Rechte des Volkes verletzt, ist für das Volk und jeden Teil des Volkes der Aufstand das heiligste seiner Rechte und die unerläßlichste seiner Pflichten.“

 

Die Reykjaviker Proteste gingen als die Kitchenware Revolution in die Geschichte ein. Der gespaltene schwarze Kegel ist noch immer zu bestaunen. Seine Einheit mit dem Parlamentsgebäude erfuhr später eine Umdeutung durch die politische Elite.

Islands Geschichte ist keine Geschichte voll des Aufruhrs und noch weniger eine des routinemäßigen Aufstands. Historische Fotos zeigen den Austurvelli, den kleinen bepflanzten Platz vor dem isländischen Parlament, mit Steinen im Gras, Menschen flüchten, die Panik ist fühlbar. Die gewaltsamen Proteste mehrerer Tausende hatten sich damals, am 30. März 1949, gegen den NATO-Beitritt Islands gerichtet. Bis zu den Manifestationen 2008 ein singuläres Ereignis.

Im Jahr 2008 platzte die isländische Bankenblase, und die Rechnung dafür sollten nach den Plänen der konservativen isländischen Regierung die 99 Prozent begleichen. Im Laufe der letzten Jahrzehnte war es einem Dutzend Familien gelungen, das Land zu beherrschen und zu besitzen. „Dieser Machtblock, im Volksmund ‚der Oktopus‘ genannt, kontrollierte buchstäblich alles: Banken und Versicherungen, das Transportwesen und die Fischerei, die Belieferung der Nato-Basen und den Importsektor. Dieser Machtblock stellte über fünfzig Jahre lang auch die meisten Spitzenpolitiker des Landes. Die Oligarchen und ihr Familienklüngel hatten quasi dieselbe Macht wie im früheren Island die Stammesoberhäupter.“ (Quelle: Le Monde diplomatique)
Erster Widerstand begann sich alsbald zu regen und die Menge beschloss, regelmäßige Samstag-Demonstrationen durchzuführen. Ihr Ziel: Der Rücktritt der Regierung, eine andere Politik.

Die langsame Eskalation

Am 8. Dezember 2008 versuchten zwanzig bis dreißig Aktivist_innen, auf die Zuschauertribüne des Parlaments zu gelangen. Entsprechend einer gelebten isländischen Tradition wollten sie den Abgeordneten ihre Verärgerung über die – in ihren Augen – verfehlte Politik zum Ausdruck bringen. Ein beherzter Protest gegen eine Politik, die die Verursacher_innen und gleichzeitig Nutznießer_innen der Krise weiter begünstigen und die konkret Geschädigten finanziell und sozial zur Rechenschaft ziehen wollte. Die Aktion verlief nach Angaben der Demonstrierenden völlig friedlich. Die Polizei behauptete später, dass sich die Kundgebungsteilnehmer_innen mit körperlichen Angriffen den Zutritt zur Parlamentsgalerie erzwingen wollten. Ihr erklärtes Ziel sei der Angriff auf die Souveränität der demokratischen Institution gewesen. Neun Aktivist_innen, später als die Reykjavik 9 oder RVK 9 bezeichnet, wurden von der Staatsanwaltschaft nach Artikel 100 des Strafgesetzes – also nach (surprise!) dem isländischen Terrorparagraphen – angeklagt.

Der neue Standort des Schwarzen Kegel, Erstes Denkmal für den Zivilen Ungehorsam, Reykjavik
Der neue Standort des Schwarzen Kegel, Erstes Denkmal für den Zivilen Ungehorsam, Reykjavik

Am 20. Jänner 2009 eskalierte die Situation endgültig. Einheiten der isländischen Riot Police gingen mit Pfefferspray und Schlagstöcken gegen mehrere tausend demonstrierende Menschen vor, die Schneebälle, Joghurt und Eier gegen das Althing (das isländische Parlamentsgebäude) warfen. Zahlreiche Verletzte und Verhaftete konnten die Sicherheitskräfte auf ihrem Konto verbuchen. Die Proteste gewannen in den folgenden Tagen an Heftigkeit. Statt Eiern wurden Schuhe geworfen, statt Gefrorenem Feuerwerkskörper abgeschossen, und das Joghurt durch weniger amorphe Pflastersteine ersetzt. Die Polizei reagierte, wie in jeder ordentlichen Demokratie inzwischen Standard, mit Tränengas. Doch selbst die exzessive Auslegung eines staatlichen Gewaltmonopols, das sich in seinem Ursprung auf die blutig erkämpften Bürger_innen- und Menschenrechte der Französischen Revolution bezieht, halfen nicht. Knapp eine Woche der Empörung reichten, um die Regierung zum Rücktritt zu zwingen.

Mit dem nur beinahe gepaltenen Black Cone bezieht sich Santiago Sierra auf diese Kämpfe gegen eine Regierung, deren Politik von vielen Menschen als illegitim erachtet wurde. Das vom Reykjavik Art Museum herausgegebene Buch ‚Santiago Sierra. The Black Cone. Monument to Civil Disobedience‘ versucht über weite Strecken, Sierras Vermengung von zivilem Ungehorsam, der übereinstimmend als ein gewaltloser Widerstand gegen eine bestimmte Politik aufgefasst wird, mit dem Recht auf den und der Pflicht zum Aufstand gegen eine Tyrann_innenherrschaft zu erklären. Der Aktivist Uri Gordon, unter anderem engagiert in der israelischen Initiative Anarchists against the Wall, beschreibt sehr schlüssig, dass behauptete Aufstände gegen eine Regierung eine historisch erprobte Methode der Autoritäten darstellen, um von den Menschen Loyalität einzufordern und umgekehrt gegen die konstruierte Bedrohung Stellung zu beziehen. Um diese Anschlussfähigkeit erzeugen zu können, wird der Akt des zivilen Ungehorsams in einen gefährlichen Aufstand umgedeutet.
Sierra selbst lässt lieber andere interpretieren.

Die Umdeutung des Black Cone

Die künstlerische Intervention Sierras fand im Rahmen einer umfassenden Werkschau des Art Museum Reykjavik statt. Der schwarze Kegel sollte bis April 2012 am Austurvelli platziert sein. Vorbeistreunende und Parlamentsabgeordnete passierten unwillkürlich den Felsbrocken. Beim Blick auf das Parlament war stets auch die Tafel mit dem Zitat „Wenn die Regierung die Rechte des Volkes verletzt, ist für das Volk und jeden Teil des Volkes der Aufstand das heiligste seiner Rechte und die unerläßlichste seiner Pflichten“ im Bild. Die Gegenwärtigkeit des Steins provozierte die Konservativen. Anstatt das Monument zum vereinbarten Termin zu entfernen, entschloss sich Sierra, das Denkmal der Stadt Reykjavik zu schenken. Eine konfliktreiche öffentliche Debatte war die Folge. Das Parlament wendete gar ein, dass das Denkmal das historische Ambiente des Austurvelliplatzes stören würde.

Schließlich einigten sich die Verantwortlichen auf eine konsensuale Lösung. Der Stein sollte vor dem Parlament seine letzte Ruhestätte finden, bis Frost, Wind und Regen ihn zerbröseln. Allerdings nicht am ursprünglichen Standort, sondern 20 Meter weiter an die Peripherie des Platzes gerückt.

La Cuna Negra, Primer Monumento a la Desobedencia civil, Reykjavik
La Cuna Negra, Primer Monumento a la Desobedencia civil, Reykjavik

Wer heute über den Austurvelli schlendert, wird Sierras Objekt kaum wahrnehmen. In die äußerste Ecke des Platzes wurde der Black Cone entsorgt. Eine Strauchgruppe im Hintergrund sorgt dafür, dass der Fels nicht als Solitär wahrgenommen wird. Das alleine wäre noch nicht bemerkenswert und könnte überall auf der Welt staatfinden. Die Verrückung des Stein wurde anscheinend lange durchdacht. Wer vor dem Schwarzen Kegel stehend die Tafel liest, hat jetzt dessen Konturen und das Grün der Strauchgruppe im Blickfeld. Schräg hinten, jetzt im Rücken der Betrachter_innen, steht das Parlamentsgebäude. Der Black Cone, Monument für den zivilen Ungehorsam, wurde nämlich von den Verantwortlichen um 180° verdreht…

„Alle denken, dass es eine unglaubliche Kraft braucht, um den Stein zu spalten, aber es ist alles eine Frage der Intelligenz. Du musst nur ausreichend Schwachpunkte in der Struktur erzeugen.“
(Santiago Sierra)


Links:

Website von Santiago Sierra:La Cuña negra, Primer Monumento a la Desobedencia civil http://www.santiago-sierra.com/201201_1024.php
Bericht zu den RVK 9 auf Saving Iceland http://www.savingiceland.org/2011/02/after-icelands-financial-storm-reykjavik-9-gather-steam/

Videos:
R9 Guerilla Projection on Icelandic Embassy in Solidarity with RVK9

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