Herbst 1918 oder Schlechte Zeiten fordern gute Agitation

Herbst 1918, ein Anfang von Robert Foltin
Ein außergewöhnlich schönes Cover: Herbst 1918, ein Anfang.

„Ich habe einmal etwas anderes als sonst geschrieben, so eine Art historischen Roman, der in den revolutionären Umwälzungen 1918 spielt“, schreibt Autor*, Aktivist*_in und Theoretiker* Robert Foltin auf seiner Homepage.

Der historische Rahmen von „Herbst 1918, ein Anfang“ ist schnell umrissen. Europas despotischer Adel liegt in seinen letzten Zügen. Als Folge der kapitalistischen Wirtschaftskrisen und den damit einhergehenden sozialen Auseinandersetzungen gewann der innere Zerfallsprozess rasch an Dynamik. Proletarische Leistungsträger* arbeiteten sich emsig und voller Tatkraft von den Rändern an die Machtzentren vor.
Das herumstreunende Gespenst des Kommunismus wird in Europa unter den Rechtlosen und Ausgebeuteten auf Grund der revolutionären Prozesse in Russland immer mehr zum konkreten Hoffnungsträger. Ein eher belangloses Mordattentat auf eine unbedeutende politische Figur lieferte den herrschenden Bellizist_innen den Anlass, der Welt den Krieg zu erklären: Der Startschuss für einen gewaltsamen Umsturz war abgegeben.

1911 war Ottakring das Zentrum einer machtvollen Hungerrevolte. Diese Revolte wurde zu einem Massenaufstand gegen Ausbeutung und gegen den Krieg gegen arme Leute , ein Symptom für den inneren Zerfall der monarchistischen Diktatur. Im Laufe der Jahre machten zahlreiche Aufstände, kleinere Revolten und Anschläge, wie der von Friedrich Adler, dieses System, das seine Herrschaftsansprüche auf die Gnade der Geburt und vor allem der Gnade Gottes begründete, mürbe.
Aus sicherer historischer Distanz betrachtet ist klar, dass ein Herrschaftssystem, das von der Wirklichkeit in rasendem Tempo überholt wurde, trotz aller machtpolitischen Stärke keine realen Überlebenschancen gehabt hat. Es zerbröckelte an allen geopolitischen Ecken und sozialen Enden. Dazu kamen desaströse Finanzspekulationen wie die um den Bau der Semmeringbahn.

Die damalige Situation weist in vielen Bezügen zahlreiche Parallelen zur gegenwärtigen auf. Menschen, die einem sozial und ökonomisch immer engeren Strickwerk nicht entsprechen, werden kriminalisiert, psychatriert und salopp zu Staatsfeind_innen erklärt. Sie werden inhaftiert und weggesperrt. Ihre ökonomischen Grundlagen werden vernichtet, ihre persönlichen Beziehungen zerstört. Menschen mit devianten Lebensentwürfen werden zu persönlichen Gegner_innen erklärt, denen eine marginale Klasse mit Definitionsmacht das gesamte Repressionspotenzial entgegen schleudert. Betroffene sind arm, jung und alt, bekämpft werden kranke Menschen, nichtsesshafte und behinderte Menschen, Menschen, die dem kleinkarierten Typus einer konstruierten Mehrheitsgesellschaft nicht entsprechen. Menschen, die sexuellen Normen nicht entsprechen wollen oder können, Menschen, die auf der Suche nach einer anderen Organisation des Zusammenlebens sind oder sein müssen. Menschen, denen, wieder einmal, die angeblichen volkswirtschaftlichen Aufwendungen für ihre bloße Existenz vorgerechnet und vorgehalten werden.

Robert Foltin greift in seiner ersten literarischen Arbeit, und damit sind wir beim Ausgangspunkt angelangt, diese Alltagsgeschichten des, ja auch, queeren Lebens auf, demaskiert das anscheinend Private und ver-leitet zum Politischen, zur Selbstorganisation und zum Aktivismus. Kenny Arkanas Parole „le changement doit commencer par sois même“ (die Veränderung muss bei dir selbst beginnen) definieren Foltins Romanfiguren nicht als eine Entweder-Oder-Option, sondern als einen Sowohl-Als-Auch-Spielraum. Foltins Standpunkt ist immer ein liebenswert radikaler: Für die unbedingte und solidarische Freiheit, für ein selbstbestimmtes Leben und damit gegen die herrschenden Eliten, gegen heteronormative Propaganda, gegen das Normativ des Andersseins als Feindbild. Vielleicht würde Foltin selbst einfach sagen: Für die Revolution.
Das macht den Roman sympathisch und lesenswert. Agitation is back again und das bereitet klammheimliche Freude.

Robert Foltins Roman Herbst 1918, ein Anfang, ist auf verschiedenen Ebenen eine unverstellte Verlockung und eine ultimative Anleitung zu einem Wagnis gleichzeitig:
Das Recht auf den Kampf für ein gutes Leben und den Anspruch auf ein glückliches Leben.

Fortsetzungen, sagt Foltin, folgen.

Lese-Tipp:
Robert Foltin, Herbst 1918, ein Anfang, Edition Grundrisse, Wien 2013.
Lesungen, sagt Foltin, folgen. Watch out for infos!

Links und Bestellmöglichkeit:
Website von Robert Foltin: http://robertfoltin.net/
Tatblatt: Hungerrevolte in Ottakring http://www.nadir.org/nadir/periodika/tatblatt/135vorstadt.htm

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