Spätestens seit der Ermordung von Mike Brown durch einen weißen Polizisten* in Ferguson und den nachfolgenden Protesten bekamen uninteressierte Europäer_innen Bilder einer hochmilitarisierten Polizei zu sehen. Die Unterschiede zwischen SWAT-Polizeitruppen und privaten und staatlichen Soldat_innen im Nahen Osten sind für militaristisch Bildungsferne nicht auszumachen.
Futuristische Robocops gingen mit ungezügelter Gewalt gegen spanische Indignados und gegen Protestler* bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien vor. Europäische Battle Groups üben nicht den Stellungskrieg, sondern den Häuserkampf. Der strategische Umbau des Militärs zu einer Riot Control-Einheit, ausgerüstet mit schnellen Radpanzern, fand nicht nur in den USA, sondern auch in der EU statt. Passend dazu wird auch die Gesetzeslage verändert. Die deutsche Armee darf inzwischen in besonderen Fällen auch im Inneren eingesetzt werden. Die Zukunft der Schweizer Armee wird als „Polizist mit Sturmgewehr“ gesehen. Gemeint ist doch eher „Polizei mit Schallkanone“; dieser Begriff erscheint heute dem Mainstream doch noch ein wenig zu abstrakt.
Diese Uniformität im Äußeren ist kein Zufall, da das Pentagon „ausrangierte“ Kriegsmaterialien im Wert von 34 Milliarden Dollar der US-Polizei überließ. Wir und sie wissen um das Schicksal von Rodney King.
Die Kriegserfahrungen und die erlebte Kriegsästhetik wirken stark in das zivile Leben der Vereinigten Staaten. Der ausgerufene Krieg gegen Terror machte die Prärie zum Kampfplatz. Plötzlich gab es nicht nur den äußeren, sondern auch den inneren Feind.
Der Geograph Stephen Graham greift in seinem Buch Cities Under Siege, The New Military Urbanism, auch diesen Topic auf.
Der innere Zerfall der USA und ihrer Mega-Cities wirkt vielfältig. Automobile verkaufen statt technischem Fortschritt und Spaß nun Sicherheit und Robustheit. Typenbezeichnungen lauten dementsprechend Warrior, Trail Blazer oder Pathfinder. Ihr Design änderte sich von etwas tiefer gelegt zu einem etwas tiefer gelegten Hummer, die Kategoriebezeichnung von Army Vehicle zu Sport Utility Vehicle. Der Treibstoffverbrauch bleibt dennoch enorm und die sublime Signalwirkungen an Stadtbewohner_innen sind verheerend.
Im Kapitel Car Wars beschreibt Graham die Eroberung der amerikanischen Städte durch SUVs. Gleich am Beginn zitiert er das Retort Collective. „Mit der profitorientierten Erdölförderung gingen von Anfang an brutale und imperiale Gewalt durch Kampfhandlungen und Genozid einher.“
Daran änderte sich bis zum heutigen Tage nichts. Im Gegenteil: In Nordamerika finden derzeit die wahrscheinlich flächenmäßig größten Landschafts- und Kulturzerstörungen im Namen der Erdölwirtschaft und der fossilen Mobilität statt. Mit Terroralarmen und einer beispiellosen Medienkampagne wird die Öffentlichkeit auf einen gerechten Krieg gegen eine unmenschliche Organisation, die im Westen klarerweise „muslimisch“ punziert werden muss, eingestimmt. Niemand fragt, wer für die Zerstörung aller bestehenden Strukturen verantwortlich ist (so bekämpfenswert sie auch waren), wer diese Gruppen groß gemacht, finanziert, ausgebildet hat, wer sie nach wie vor mit Waffen beliefert. Und so nebenbei wird auch der Rassismus mittransportiert: Muslim_innen sind per rassistischer Definition dumm, rückständig und allzeit zu Gräueltaten bereit.
US-Bürger_innen, die den ökonomischen Krisenregionen der Downtowns den Rücken kehren und in Vorstädte mit Parkplatz, 200 m² Grün + Barbecue-Platz ziehen, lassen Nachbar_innen zurück, denen nicht einmal die amerikanische Finanzwirtschaft einen Kredit zum Immobilienkauf gewähren wollte. Downtown sind belebte Büro- und Verwaltungstürme bei Tag, Lebensmittelpunkt der deklassierten, kranken, armen und meist farbigen Menschen und der Polizeien bei Nacht. Plätze und Orte werden, wie im Kampf um fossile Rohstoffe, zu rassistisch determinierten Orten, zu Orten der unüberbrückbaren Gegensätze.
Graham beschreibt immer wieder diese Parallelität der Entwicklungen von Staat und den Citoyen_nes. Zum Beispiel die der staatlichen Terrorparanoia-Propaganda. Dieser stellt er die allgegenwärtige Angst der Amerikaner_innen gegenüber, die ihre Angstgefühle beschreiben, wenn sie aus ihren Gated Communities in „normale“ Gegenden fahren und dort auf arme Menschen treffen (müssen).
Stephen Graham wird aber nicht nur als Wissenschafter und Buchautor wahrgenommen. Die britische Krawallpresse, die ausschließlich von der österreichischen an Niveau unterboten wird, widmet sich auch den angeblichen „Saufeskapaden“ Grahams.
Graham zieht demnach nächtens durch die Straßen seiner Nachbarschaft, in schwarzen Shorts und schwarzem Jacket bekleidet, sieht einige Luxuswägen und denkt sich seinen berechtigten Teil. Tiefergelegte und höher angelegte Mercedes SLKs, BMW 520er, ein BMW X5 und ein Land Rover stehen in Northumberland Gardens sinnlos in der Gegend. „Mir wurde schlecht und ich war den Tränen nahe“, sagte die Autoeigentümer_in gegenüber der Daily Mail, als sie die zentimetergroßen Scratchings auf ihrem nahezu funkelnagelneuen Mercedes bemerkte. „Arbitrary“, das mit rücksichtslos oder tyrannisch übersetzt werden könnte, wurde mit einem Schraubenzieher in den Lack des Autos geritzt.
Solche Aktionen sind abgrundtief böse und kriminell und abzulehnen, und kosteten deswegen Graham seine gesamten Ersparnisse. Grahams Arbeitnehmerin, die Newcastle University, gab sich auf Nachfrage der BBC zugeknöpft: Das geht seinen üblichen Gang.
Wer Stephen Graham persönlich befragen möchte, kann dies im Oktober in Wien machen. Das Urbanize-Festival, das heuer unter dem Titel „Safe City“ steht, hat Graham für den 10. Oktober ins Wien Museum eingeladen.
Und um diese Ziele zu erreichen und zu bewahren, ist die eine Macht mit den notwendigen Gewaltmitteln ausgestattet, um nötigenfalls „gerechte Kriege“ zu führen, gegen die Barbaren* an den Grenzen wie gegen die Rebellen* im Inneren.“
(Michael Hardt, Antonio Negri, Empire, Die neue Weltordnung)
Update: Im urbanize!-Programm scheint Stephen Graham nicht mehr auf. Statt dessen wird ein Vortrag des Berliner Politikwissenschafters Volker Eick unter dem eher verstörenden Titel „Aufrüsten und Auslagern – Pazifizierung zwischen Kommerz und Community“ angeführt.
an.
Buchtipp: Stephen Graham, Cities Under Siege, The New Military Urbanism, Verso, 2011