Die französischen Internierungslager im Südwesten von 1939 bis 1944
„Unsere Leute sind sehr unglücklich, weil ich wieder einmal am Ende meiner Hilfsmöglichkeiten bin.“ Friedel Bohny-Reiter, die als Krankenschwester für die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für kriegsgeschädigte Kinder (SAK) im französischen Internierungslager Rivesaltes im Einsatz ist, wird kurz vor der Schließung des Lagers Ende 1942 diesen deprimierenden Tagebucheintrag machen. In Ihrem „Journal de Rivesaltes“ schreibt sie viel über das tägliche Elend und die Verzweiflung, die Hoffnungslosigkeit und Entmutigung. Als die SS im Camp eingetroffen war, um die Zahl der Jüd_innen zu ermitteln, die deportiert werden könnten, vermerkt sie unaufgeregt: „Heute kamen schwarze Wägen ins Lager – Deutsche Kommission.“
Vielleicht war sie bloß vorsichtig in ihrer Wortwahl. Vielleicht war ihr auch schon zu Ohren gekommen, dass der neue Chef der SAK, die in der Schweizer Rotes Kreuz Kinderhilfe aufging, ein „Mann mit antisemitschen Gefühlen“ war, so beschreibt Eveline Hasler Oberst Hugo Remund in ihrem halbdokumentarischen Roman Mit dem letzten Schiff.
Aber hin und wieder wird Friedel Bohny-Reiter wütend, wenn sie zum Beispiel schreibt: „Manchmal überkommt mich eine ohnmächtige Wut auf die, die dieses Elend herbeigeführt hatten.“ Explizit politisch wird sie selten: „Wer gibt Menschen das Recht, über andere zu verfügen? Über die, die anders, vertrieben, ohne Papiere sind?“
30 Kilometer nördlich von Portbou errichtete Frankreich in Argelès-sur-Mer das erste Internierungslager für die vor Franco geflüchteten Republikaner_innen. Obwohl der kommende Exodus bekannt war und auch entsprechende Anweisungen zum Bau des Lagers vorlagen, war Ende Jänner 1939 so gut wie keine Infrastruktur vorhanden. Auf dem 50 Hektar großen Areal zwischen der Mündung der Tech ins Mittelmeer, dem Strand und Pinienwald, wurden die Refugees ohne Gebäude, Wasser, Sanitäranlagen buchstäblich in den Sand gesetzt. Ein erster Versorgungslastkraftwagen versank mitsamt dem Material, das er anliefern sollte, im Morast. Nach seiner Besichtigung am 1. Februar berichtete der radikalsozialistische Innenminister Albert Saurrat: „Der 10 Kilometer lange Strand von Argelès wurde unterteilt in stacheldrahtumzäunte Rechtecke von 1 Hektar Größe [Anmerkung: sogenante Îlots], in denen jeweils 1.500 Milizionär_innen untergebracht sind.“ (zitiert nach Serge Barba)
Tatsächlich weiß bis heute niemand genau, wie viele Menschen im Internierungslager in Argelès-sur-Mer inhaftiert waren. Viele französische und noch mehr spanische Quellen sprechen auch von Konzentrationslagern. Die Schätzungen liegen zwischen 100.000 und 180.000 Menschen, die hier ohne ausreichende Nahrung, ohne Trinkwasser, ohne medizinische Versorgung und sanitäre Einrichtungen festgehalten wurden. Viele, die von den Lagern an der Grenze hierher transportiert worden waren, waren krank, verletzt, alt und dem Erschöpfungstod nahe, hochschwanger. Tote Säuglinge wurden am Strand vergraben – dort, wo heute hundertausende Sonnenhungrige ihren Urlaub genießen.
Obwohl sich die spanischen Republikaner_innen bei der Bildung ihrer Volksfront-Regierung an der im Amt befindlichen französischen Volksfront-Regierung orientierten, wurden die spanischen Antifaschist_innen als „Unerwünschte„, „les Indésirable_es„, eingestuft und genauso behandelt. Die Drecksarbeit der Über- und Bewachung der Grenzen und des Lagers übergab Frankreich den bewaffneten Kolonialtruppen aus besetzten Gebieten in Westafrika, den Tirailleurs sénégalais bzw. den berittenen Spahis, die in den nordafrikanischen Kolonien rekrutiert wurden. Das ist insoferne bemerkenswert, da sich Franco bei seinem Kampf gegen die Volksfront-Regierung und die anarchistischen Milizionär_innen auf spanische Söldner*truppen aus dem kolonialisierten Marokko, den Regulares, stützen konnte. Auf die Regulares konnte Franco bereits bei der blutigen Niederschlagung des asturischen Bergarbeiterstreiks zählen. Serge Barba führt aus, dass der Einsatz der französischen Kolonialarmeen die Verachtung für die Geflüchteten unter Beweis stellt. Diese Behauptung halte ich für sehr bedenklich. Rassismus und Klassismus wurden und werden von linken und anarchistischen Kämpfer_innen bekämpft, ebenso wie koloniale Strukturen. Der Einsatz von Söldner_innen aus den spanischen und französischen Kolonien in Afrika zeigt viel mehr, wie sehr der Kolonialismus in den bürgerlichen Ideologien verankert war und ist und benützt wurde und wird.
Dem Konzentrationslager Argelès-sur-Mer folgten bald viele weitere. Michèle Fleury-Seemuller, die das Tagebuch von Friedel Bohny-Reiter von Rivesaltes editierte, merkt zu der Begrifflichkeit, ob von Internierungs- oder Konzentrationslager gesprochen werden kann, an: „Die französischen Lager sind nicht mit den deutschen Lagern vergleichbar. Auschwitz mit seinen Gaskammern und Krematorien hat uns so geprägt, dass wir bei dem Wort „Lager“ unweigerlich an das denken müssen, was dort passierte. […] Die französischen Lager wollten weder einen „neuen“ Menschen schaffen oder die Arbeitskraft von Gefangenen bis zu ihrem Tod ausbeuten, noch eine ganze Bevölkerungsgruppe vernichten. […] Auf den ersten Blick scheint es, als ob es um das Wegsperren der Unerwünschten gegangen wäre, aber dann sind Gefangene freigelassen worden, ohne dass man ein Muster erkennen konnte, nach welchen Kriterien die Entlassung erfolgt war. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die Regierung keine bessere Lösung parat hatte, als tausende zu inhaftieren, nur auf äußeren Druck reagierte, sei es dem von Hilfsorganisationen für die Freilassung oder dem Deutschlands, als es verlangte Jüd_innen nach Polen zu deportieren. Beides bot die Gelegenheit sie loszuwerden, ohne dass sie sich Gedanken über deren Zukunft machen musste.“ [frei übersetzt].
Dieser Einschätzung kann nur bedingt gefolgt werden und bezieht sich auf das Internierungslager Rivesaltes, dem ersten, in dem nicht ausschließlich spanische Antifaschist_innen eingesperrt waren, sondern auch Angehörige von Sinti und Roma und Jüd_innen. Spätestens nachdem die sogenannte Volksfront-Regierung unter Édouard Daladier zurück trat, wurde die ganze Hässlichkeit rechter Politik sichtbar. Das aus den späten 1920er-Jahren stammende liberale Migrationsrecht, das erleichterten Zugang zur Staatsbürger_innenschaft ermöglichte, wurde zurück genommen. Unter der faschistischen Vichy-Regierung wurde die Aberkennung der Staatsbürger_innenschaft beschlossen. Betroffen waren 480.000 Personen, 15.000 Französ_innen verloren in den folgenden Jahren die französische Staatsbürger_innenschaft. (Übrigens ein Gesetzesvorschlag, den die sozialistische Regierung François Hollandes 2015 wieder aufs Tapet brachte, aber nicht durchsetzen konnte; ein Aberkennungs-Gesetz führte Frankreich als erster Staat der Welt erstmals während des 1. Weltkriegs ein.)
Bereits 1933 wurde unter Daladier Personen ohne französischer Staatsbürger_innenschaft der Zugang zu medizinischen Berufen untersagt.
Nach der Machtergreifung Marschall Pétains am 10. Juli 1940 wurden fast im Tagesrhythmus fremdenhassende und antisemitische Gesetze ohne Druck der deutschen Besatzungsmacht erlassen. Der „französische Staat“ änderte die revolutionäre Parole „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ in ein faschistisches „Arbeit, Familie, Vaterland“ ab und entwickelte sich zur eifrigen Komplizin der nationalsozialistischen Verbrechen.
Ab 11. Juli 1940 erließ das Vichy-Regime eine Reihe von Gesetzen, die sich hautpsächlich gegen die im Lande lebenden Jüd_innen, Menschen mit falscher Staatsbürger_innenschaft und Sans-Papiers richtete.
Es folgt eine unvollständige Aufzählung:
17. Juli 1940: Eine Beschäftigung im öffentlichen Dienst war nur noch für Personen möglich, deren Vater Franzose war.
16. August 1940: Ausdehnung des Berufsverbots für Jüd_innen auf medizinische Berufe und auf Rechtsanwält_innen.
20. August 1940: Erste Deportation von spanischen Antifaschist_innen in das Vernichtungslager Mauthausen. Frauen und Kinder wurden an die Franco-Diktatur ausgeliefert.
27. August 1940: Antisemitische Presseberichte wurden straffrei gestellt.
27. September 1940: Ausländischen, nicht-jüdischen Staatsbürger_innen wurde das Recht auf Bewegungsfreiheit untersagt, das französische Arbeitsrecht galt für diese Gruppe nicht mehr.
3. Oktober 1940: Statut des Juifs: Der antisemitische Begriff „jüdische Rasse“ wurde erstmals in ein französisches Gesetz aufgenommen. Ausdruck einer autonomen französischen „Judenpolitik“, die keinem direkten und beinahe keinem indirekten deutschen Einfluss ausgesetzt.
4. Oktober 1940: Internierungsgesetz: Jüd_innen ohne französische Staatsbürger_innenschaft konnten ohne Angabe von Gründen in besonderen Lagern interniert werden.
29. März 1941: Gründung des „Generalkommissariats für Judenfragen“, das mit der „Planung und Durchführung der offiziellen Politik der Entrechtung, Inhaftierung und Vernichtung gegenüber allen Jüd_innen in Frankreich betraut war“.
2. Juni 1941: Verschärfung des Statut des Juifs, mit dem Ziel einer umfassenden rechtlichen Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung.
27. März 1942: Erste Deportation in das NS-Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Bis 1945 überlebten nur 19 Personen.
14. August 1942: Beginn der Deportation von Kindern.
„Die Autoritäten der Vichy-Regierung handelten ohne Druck der Deutschen, als sie den Befehl zur Deportation von Kindern – mit ihren Eltern, aber auch unbegleitet – gaben. 1942,“ so Fleury-Seemuller, „wurden 1.032 Kinder deportiert, die jünger als sechs Jahre waren, 2.557 im Alter von sechs bis zwölf, 2.464 Dreizehn- bis 16-jährige.“ (mit Verweis auf Serge Klarsfeld, 1983 und Eric Connan, 1991)
Im Gegensatz zu den jüdischen Gefangenen hatten die spanischen Republikaner_innen Möglichkeiten, den Internierungscamps zu entkommen. Eine lebensgefährliche Möglichkeit bestand darin, ins faschistische Spanien zurück zu kehren und alsbald zu den 1,5 Millionen Gefangenen in spanischen Konzentrationslagern gezählt zu werden. Geschätzte 200.000 nahmen, wohl mehr unfreiwillig als freiwillig, diesen Weg. Es hatte auch Angebote gegeben, der französischen Fremdenlegion beizutreten. Zwangsarbeitseinsätze gab es sowohl für jüdische als auch republikanische Gefangene.
Aber auch nicht alle republikanischen Geflüchteten hatten diese „Wahlfreiheiten“.
Als besonders „gefährlich“ Klassifizierte, dazu rechnete der französische Staat Kommunist_innnen, Syndikalist_innen, Anarchist_innen oder Freimaurer, wurden in Sonderlager geworfen, wie jenes in der Königlichen Festung in Collioure, wenige Kilometer südlich von Argelès-sur-Mer. Besonders Gefährliche „durften“ besonders mies behandelt werden. Vorsätzliche Misshandlungen und Folter hinter feuchten, eiskalten mittelalterlichen Festungsmauern waren Teil dieser Sonderbehandlung, die zu Hunger, unbehandelten Krankheiten, nicht versorgten Kriegsverletzungen, Körpern voller Flöhe und Läuse, hinzukamen. Geschätzte 1.000 Eingekerkerte, ihre genaue Zahl ist bis heute unbekannt, landeten im Lager Collioure. Nach seiner Schließung wurden fast alle Gefangenen in das Straflager in Vernet d’Ariège überstellt.
In Vernet wurden die besonders „Aufsässigen“ [les fortes têtes] festgehalten. Hier wurden auch die 12.000 Milizionär_innen (laut S. Barba) der anarchistischen Kolonne Durruti, die als letzte Spanien verließen, inhaftiert. Wer so viele fortes têtes an einem Ort konzentriert, muss mit etwas Widerstand rechnen. Die Anwesenheit von Anarchisten wie Ricardo Sanz, M. Garcia Vivancos, José Juan Domenech, F. Iglesias und Kommunisten wie Paul Merker, Heinrich Rau, Ljubomir Ilic, Luigi Longo [Anmerkung: Frauen wurden in keiner der zur Verfügung stehenden Quellen genannt.] führte zu klandestinen Srukturen im Camp und zu Aufständen. Vom 22. auf den 23. Februar 1941 überwältigten sie die Wachorgane und weigerten sich, die ihnen auferlegten Zwangsarbeiten wieder aufzunehmen.
Trotz der Repression gelang es, die klandestinen Strukturen bis Mitte 1944 aufrecht zu erhalten: In vier Jahren gelangen 289 erfolgreiche Fluchten.
In Vernet wurde auch der österreichische Nationalist und Kommunist Alfred Klahr nach seiner misslungenen Flucht übers Meer Richtung Sowjetunion interniert. Wie viele andere auch wurde er nach Auschwitz deportiert. Klahr wurde in Warschau auf der Flucht erschossen. 1.200 Jüdinnen und Juden, die ab Herbst 1940 auch in Vernet eingesperrt worden waren, wurden in das KZ Dachau deportiert.
Für „extremistische Agitator_innen“ wurde vom Vichy-Regime ein sorgfältiger Plan für die Außerlandesschaffung ausgearbeitet. Wer nicht den Nazis ausgeliefert wurde, wurde von Port-Vendres aus, etwas südlich von Argelès-sur-Mer gelegen, in Lager im besetzten Algerien deportiert. Am 24. April 1941 wurden 300 in Vernet Internierte via Rivesaltes und Port-Vendres in das auf einem algerischen Hochplateau gelegene fortes têtes-Camp Djelfa gebracht. Djelfa war nicht nur wegen seiner Haftbedingungen, sondern auch wegen der harten klimatischen Bedingungen gefürchtet. 1962, nach dem Ende der französischen Kolonialherrschaft, mussten die spanischen Republikaner_innen, die sich nach ihrer Freilassung in Algerien niedergelassen hatten, erneut flüchten: nach Port-Vendres. Der Empfang in Frankreich war kühl.
Die Verfolgung, Erniedrigung und Entmenschlichung von geflüchteten Menschen, ihre de facto Gefangennahme in „Flüchtlingslagern“ oder ihre Konzentration in nicht zufällig so bezeichneten „Hot Spots“ („A highly contaminated location is colloquially referred to as a ‚hot spot‘.“) hat in Europa eine abscheuliche Tradition. Vom griechischen Idomeni bis zum französischen Calais gibt es keinen Grund, auf diese „Europäischen Werte“ stolz zu sein. Im Gegenteil.
Nachtrag:
Ca. 7.000 republikanische Kämpfer_innen und Zivilist_innen wurden aus den französischen Internierungslagern in das Vernichungslager Mauthausen bzw. in dessen Nebenlager deportiert. Nur 2.000 erlebten 1945 ihre Befreiung.
Retorno a Mauthausen – Bericht in der El Pais (spanisch) und der Link zur im Artikel erwähnten Doku (per Download): Mauthausen-Gusen: La Memoria>.
Mehr als 75.000 Jüd_innen wurden aus Frankreich deportiert. Nur 2.500 überlebten. 3.000 starben in den französischen Internierungscamps. Link zum Wikipedia-Eintrag.
Quellen:
Friedel Bohny-Reiter, Journal de Rivesaltes, ZOE Poche, 2010. Vermutlich auch in einer deutschen Version erhältlich. https://de.wikipedia.org/wiki/Friedel_Bohny-Reiter
Serge Barba, De la Frontière aux Barbelés, Les chemins de la Retirada 1939, www.trabucaire.com, Erhältlich an fast allen Erinnerungsorten südlich und nördlich der Pyrenäen. Serge Barba, wurde als Kind von Geflüchteten in der Maternité von Elne geboren.
Lesetipp:
Erich Hackl, So weit uns Spaniens Hoffnung trug. Rotpunktverlag, 2016
Eveline Hasler, Mit dem letzten Schiff. Der gefährliche Auftrag von Varian Fry. Nagel & Kimche, 2013.