Die Wienwoche und ihre Plastikkathedrale

morgen mach ich blau
morgen mach ich blau…

Also machte ich mich auf die Suche. Doch wo beginnen? Gefühlt begegnet mir dieses Graffiti an jeder Ecke, an jedem Tag. Gefühlt war ich mir auch sicher, jede Wette, dass ich dieses Graffiti schon mal fotografiert hätte. Ein Irrtum. Ich entscheide mich, meine Spurensuche im Umkreis von U-Bahnstationen zu starten. Keine schlechte Wahl, wäre da nicht die auch in Wien überhandnehmende Vandalisierung des öffentlichen Raums durch Immobilienbesitzer_innen. Wienwoche, du machst mir mein Leben nicht einfach.

„’Heute mach ich blau‘ – [ist] keine Aufforderung, am nächsten Tag einfach nicht zu arbeiten, sondern eine politische Forderung nach einer anderen Gesellschaft“, sagte Ivana Marjanovic, Mitglied der künstlerischen Leitung der Wienwoche, letzten Mittwoch in einer Pressekonferenz. Die Wienwoche, diesjähriges Motto Dolce far niente sei von diesem Graffiti inspiert worden berichtet der staatliche Rundfunk ORF.

Gefühlte tausend Mal ist mir das Graffiti morgen mach ich blau in den vergangenen Jahren in Wien begegnet. Aber nie kam mir der Gedanke in den Sinn, dass es sich dabei um „eine Forderung“ handle. Das A mit Kreis, das den Fassadenverschönerungen jeweils hintangestellt wird, deutet für mich auf die anarchistische Praxis der Direkten Aktion, der konkreten politischen Handlung. Wieso wird dieses Graffiti, den Künstler_innen drohen für den Fall des Erwischtwerdens hohe Strafen, im Kontext der Wienwoche die Radikalität abgesprochen?
Raoul Vaneigem kommt mir dabei spontan in den Sinn. Der Situationist Vaneigem meinte, dass die (heutige) Funktion von Künstler_innen und ihren Spektakeln darin bestehe, Wölf_innen der Spontaneität zu Schafhirt_innen des Wissens und der Schönheit zu machen, die dazu beitragen, dass Anthologien mit Aufrufen und Museen mit Aufrufen zum Aufstand gepflastert sind. „Die Kunst erbaut heute nur noch Plastikkathedralen.“ (Vaneigem, 1967)

Ich begebe mich also nochmals auf die Suche. Diesmal auf die Suche nach der Praxis der Arbeitsverweigerung. Während die deutschsprachige wikipedia einen gehaltvollen Text über Arbeitsverweigerung im juristischen Sinne und die Sanktionen dafür auswirft, weiß die englischsprachige Version besser wonach ich suche. Zufrieden bin ich damit dennoch nicht. Ich suche keine wissenschaftliche Abhandlung des Themas, es geht doch um die Aktion! Also konkrete Personen fragen. Kennst du ein Buch…, kannst du mir einen Text empfehlen…?

Der Anarchosyndikalist Émile Pouget

Émile Pouget schrieb einen Text über Sabotage. 1860 wurde Émile geboren, mit 15 musste er zu arbeiten beginnen und mit 19 gründete er in Paris das erste Arbeiter_innen-Syndikat. 1881 war er als französischer Delegierter beim Internationalen Anarchistischen Kongress in London dabei. 1904 schrieb er einen Aufsatz über die Direkte Aktion und ca. sechs Jahre später den über die Sabotage.

Der Begriff Sabotage, schreibt Émile Pouget, existierte bis vor 15 Jahren nur als Argotausdruck, einer „Geheim“-Sprache der Minorisierten [Anm. vergleichbar der heute verbreiteten Langue Verlan] und beschrieb nicht den Akt des Holzschuhe fabrizierens, sondern, bildlich und expressiv ausgedrückt, wie den einer Arbeit, die wie Huftritte ausgeführt wird (sabots: französisch Holzschuh, Huf). Seitdem durchlief der Begriff Sabotage eine Metamorphose und wurde beim Kongress der Syndikalist_innen 1897 in Toulouse offiziell als Instrument des sozialen Kampfes mit großer Mehrheit angenommen, so Pouget.

Anfangs nicht zur Begeisterung aller, manchen war die Sabotage zu bürgerlich, anderen zu anarchisch, wiederum andern zu unmoralisch. Aber trotz dieser Unterstellungen, wir merken Pouget war ein begeisteter Fan der Sabotage, wie sie sei feindselig, machte sie ihren Weg…überall auf der Welt. Mit dieser Feststellung sollte Émile dann doch richtig liegen.

Zwei Beispiele – die Seidenarbeiter_innen von Lyon und die Docker_innen von Glasgow

In gut fünfzig Jahren, von 1800 bis 1848, stieg die Zahl der Seidenarbeiter_innen in Lyon von 6.000 auf das Zehnfache an. Die meisten waren Tagelöhner_innen und wussten nicht, ob sie ihren Lohn auch ausbezahlt bekommen würden. Wurden sie am nächsten Tag nicht mehr beschäftigt, war ihnen der Hungertod sicher. Nach den Aufständen vom Juli 1831, die von Louis Philippe I. niedergeschossen wurden, begann im November der Arbeitskampf der Seidenarbeiter_innen. Sie hissten ein großes Transparent auf dem geschrieben stand Brot oder Tod. Der Streik wurde sofort von den Republikaner_innen unterstützt, um wenig später sich wieder zu entsolidarisieren. Unbeeindruckt davon, erwiesen sich die erzürnten Arbeiter_innen einfallsreich: Sie verunreinigten die Seide mit Öl und führten so den Niedergang der Seidenindustrie herbei. So in etwa wird diese Episode von Honoré de Balzac geschildert.

Die ultimative Folge dieses Arbeiskampfes, der sich über mehrer Jahre zog, mag vielleicht nicht den Tatsachen entsprechen. Wo die Profitmargen gefährdet werden, sucht sich das Kapital damals wie heute sicherere Anlagemöglichkeiten. Zudem stehen wir Mitte des 18. Jahrhunderts am Beginn einer technologischen Umwälzung und die Exploitation in den Kolonien noch nicht am Zenit. Balzac selbst hielt es später für nicht ausgeschlossen, dass die Seidenfabrikanten die Seide selbst zerstört haben könnten. „Die Arbeiter_innen könnten Bajonette zum Fressen bekommen, aber sicher kein Brot.

Als zweiten Ausgangspunkt für Sabotage-Aktionen führt Pouget, den Streik der Docker_innen 1889 in Glasgow an. Ihre Forderung nach Lohnerhöhungen wurde abgelehnt und die Docker_innen ausgesperrt. An ihrer statt wurden aus der Umgebung Landarbeiter_innen geholt (Dieser Streik schien damals unter der Bezeichnung Ca‘ Canny bzw. Go Canny bekannt gewesen zu sein). Da die Landarbeiter_innen die hochspezialisierte Arbeit auf den Docks nicht auf die Reihe bekamen, wurden schließlich die Docker_innen zurückgeholt, zu den alten Tarifen. Die Docker_innen versammelten sich und beschlossen von nun an nach Go Canny-Weise zu arbeiten. Wenn die Arbeit der Go Cannys ebenfalls reicht, warum sollten wir mehr leisten? Ständig fiel die Seefracht ins brackige Hafenwasser… Nach einigen Tagen hatten sie ihre Lohnerhöhung.

Der Körper als Ware

Émile Pouget beschreibt in Le Sabotage nicht nur viele erfolgreiche Sabotageaktionen, sondern gibt auch Anleitungen, wie diese argumentiert wurden. Schlechte Arbeit für schlechte Gegenleistung aus Prinzip. Die Arbeitskraft ist die einzige Ware, die ein_e Arbeiter_in im Leben hat, deswegen sei es nur vernünftig nach dieser Logik seinen Körper zu verkaufen (wir erinnern uns an oben erwähnte Kritik, dass die Sabotage zutief bürgerlich sei).

1881 etwa wurde die Zentrale des Telegrafenamts sabotiert, da die Aufforderungen die Nachtarbeit besser abzugelten ohne Antwort blieben. Ein Streik war unvorstellbar. Doch eines Morgens waren die Leitungen tot. Techniker_innen wurden geschickt, prüften Kabel und Apparate, aber es gelang ihnen nicht, die Ursache für die Störung herauszufinden. Nur fünf Tage später wurde den Forderungen der Telegrafist_innen nachgekommen und am darauffolgenden Tag klapperte es wieder in den Leitungen.

Der Syndikalist_innen-Kongress in Toulouse 1897

Am erwähnten Kongress in Toulouse wurde nicht nur die Einführung der Sabotage als Instrument des sozialen Kampfes beschlossen, sondern auch grundlegende Diskussionen geführt. So wurde etwa kritisiert, dass die Sabotage zwar auf die Zustimmung der revolutionär gesinnten Arbeiter_innen treffe, aber die meisten seien eben doch mehr theorielastig. „Lieber diskutieren sie Fragen der Emanzipation oder […] entwerfen Pläne für eine Welt nach dem Ende der Ausbeutung des Menschen,“ hält etwa der Bericht der Kommission fest. Am Ende des Kongresses war beschlossen, dass die Sabotage ein symbiotisches Gegenstück brauche: Den Boykott. Den Boykott auf der Seite der Konsument_innen. Mit eigenen Labels wurden nun Produkte als arbeiter_innenfreundlich oder arbeiter_innenfeindlich gekennzeichnet.

Mit diesen Beschlüssen wurde es richtig heiter: In bekannten Pariser Restaurants stand den lieben Tag das Personal herum, der Herd war befeuert und als die Gäste im Speisesaal eintrafen, befand sich in den Kochtöpfen nichts als siedende Ziegelsteine und die Küchenuhr. Oder: In einer abgesprochenen Aktion stellten sich fast alle Pariser Frisör_innen so ungeschickt an, dass ihnen beim Shamponieren der gesamte Flascheninhalt rausflutschte. Der Schaden war enorm.

Die Kreativität der Arbeiter_innen war grenzenlos. Mit der Aktion „bouche ouverte„, wörtlich offener Mund, sind vermutlich Schmiergelder gemeint und letztlich wurde auch der Dienst nach Vorschrift entdeckt, um die Unternehmen zu schädigen. Den Dienst nach Vorschrift exportierte der Genosse Tomschick, Delegierter aus Österreich, auf diesem Kongress nach Frankreich und auch nach Italien, wo 1905 ein außerordentlich behäbiger Bummelstreik der Eisenbahner_innen organisiert wurde.

Die Sabotage in Arbeitskämpfen und Ethik

Pouget widmet sich aber auch ethischen Fragen der Sabotage. Angeführt werden Beispiele, in denen Arbeiter_innen den Verkauf gesundheitsschädlicher Produkte sabotierten. Oder Fälle angeblicher Sabotage. So hatte eine Boulevardzeitung berichtet, dass ein_e Pharmazeut_in die Apotheke in der person arbeitet sabotierte. Er hätte die Arzneien deswegen mit Strychnin versetzt, so dieses Blatt. Pouget schreibt, dass dieser Bericht frei erfunden wurde, um die Sabotage als Kampfform zu diskreditieren. Bei jeder Form der Sabotage, würde entsprechend der Regeln darauf geachtet, dass Kund_innen nicht verletzt oder sonstwie zu Schaden kommen. Dennoch können sehr wohl auch Pharmazeut_innen oder Angehörige anderer Gesundheitsberufe Akte der Sabotage ausführen, zum Beispiel in dem sie teurere, bessere oder größere Mengen an Medikamenten hergeben, als bezahlt werden, führt Pouget aus.

Die Direkte Aktion

Émile Pourget war, wie wir sehen, überzeugter Syndikalist. In seinem Aufsatz die Direkte Aktion, L’action directe, lässt er aber erkennen, dass sein Ziel nicht im Kampf um Lohnerhöhungen oder um bessere Arbeitsbedingungen stecken bleibt. Die Direkte Aktion sei der Syndikalismus in Aktion. Die Direkte Aktion warte nicht darauf, dass irgendeine Kraft oder Macht von irgendwo her kommt, um die Verhältnisse zu ändern. Die Direkte Aktion ziele direkt auf den Kapitalismus und seine Welt ab, um ihn zu transformieren, Herrschaftsverhältnisse zu beenden und Souveränität über unsere Produktionsverhältnisse zu erlangen – eine, wie Pouget schreibt, essenzielle Voraussetzung für ein Leben in wirklicher Freiheit.
Die kapitalistischen Demokratien hält Pouget nur für die derzeitige Ausformung des Autoritarismus, dem die „Arbeiter_innen-Klasse“ ein Konzept von Freiheit und Autonomie entgegen stellen müsse.
Das war 1904.

Plakat auf der Demo gegen den neoliberalen Angriff auf das Arbeitsrecht (loi travail) in Frankreich. "Faule aller Länder, vereinigt euch!" September 2017, Paris.
Plakat auf der Demo gegen den neoliberalen Angriff auf das Arbeitsrecht (loi travail) in Frankreich. „Faule aller Länder, vereinigt euch!“ September 2017, Paris. (foto: paris-luttes.info)


Absentismus, Faulheit, Widerstand

In einer Zeit des Taglöhner_innentums war an ein individuelles oder kollektives Nichterscheinen auf der Arbeit eher keine so erfolgversprechende Idee. Beliebtheit erfuhr diese Form der Sabotage erst in den 1960er-Jahren in Italien, wurde von den dortigen Operaist_innen entwickelt und führte in eine schwere Staatskrise.
In Köln kamen Anfang August 1973 300 Arbeiter_innen zu spät aus ihrem Urlaub in der Türkei in die Ford-Werke zurück. Ein Protest, der mit der fristlosen Entlassung quittiert wurde. (Foltin, 2015) Davor feierten in München 400 Personen den 1. Mai als Tag gegen die Arbeit. (Wildcat, 2012) Ebenfalls 1973 beklagte ein Manager von General Motors, dass sowohl die Produktivität als auch die Qualität durch Absentismus und Zuspätkommen leiden würden, obwohl dies nur 15 Prozent der Belegschaft praktizieren würde.

September 2017:
Existenzbedrohend sei es, wenn sich bei Air Berlin 149 Pilot_innen einfach krank melden, verlautbarte der Vorstand der Fluggesellschaft. Fun fact: Air Berlin befindet sich seit Mitte August 2017 in der Insolvenz
In einem Versuch die Proteste gegen den neoliberalen Abbau der Rechte von Lohnabhängigen zu diskreditieren, sprach der derzeit in Frankreich im Amt befindlche Präsident Emmanuel Macron von den faulen Menschen, (franz. fainéants), die dagegen opponieren würden.

1968 begannen übrigens in Frankreich die unglaublichen Arbeitskämpfe in der Uhrenfabrik LIP. Die meisten der mehr als tausend Beschäftigten waren Frauen und in ihren Mitteln schlossen sie Gewalt und andere legitime Methoden, zum Beispiel den Verkauf der Luxusuhren im heutigen Wert von € 800 Millionen am Schwarzmarkt, nicht aus (u.a. aus der Synopsis zum Film Les LIP, l’imagination au pouvoir von Christian Rouaud). Eine der Parolen der damaligen Arbeiter_innen war: Die LIP, wir sind alle faul.

Die Wienwoche sehe ich mir trotzdem an, eine Überraschung wäre doch fein.

Danke den Sprayer_innen, dass ihr mein Herz erwärmt, wenn ich euren Graffitis begegne.

…morgen mach ich blau…


Quellen und Hinweise:

Zur WIENWOCHE 2017 DOLCE FAR NIENTE – Leben jenseits kapitalistischer Produktion geht es hier http://www.wienwoche.org
Émile Pouget, L’action direct suivi de Le Sabotage, Le Flibustier, 2012.
Wildcat 93, Materialien gegen die Individualisierung, Betriebserfahrungen von den 70er Jahren bis heute, 2012.
Raoul Vaneigem, Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen, Nautilus, 2008.
Robert Foltin, Autonome Theorien – Theorien der Autonomen, mandelbaum, 2015.
Original Gesundheitskollektiv, Lieber krank feiern als gesund schuften. Wege zu Wissen und Wohlstand! Der Verkauf dieses Ratgebers war angeblich in den 1970er-Jahren verboten zum Nachlesen hier

Hier geht’s zur LIP-Doku (leider nur französisch, aber wenigstens sind hier auch Frauen Akteur_innen):

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