Kaum in einer europäischen Region wie in Italien ist der Faschismus seit seiner Etablierung so lebendig wie im Rest des Kontinents. Nennenswerte Aufarbeitungen dieser düsteren Zeit fanden keine statt. Die Ent-Faschisierung wurde von den Christdemokrat_innen 1949 offiziell als beendet erklärt.
Dieser Eintrag stellt den Versuch dar, die Ursprünge des Faschismus im Futurismus des beginnenden 20. Jahrhunderts nachzuzeichnen und die Gewaltverherrlichung, den Patriotismus, den Nationalismus und die Frauenfeindlichkeit als konstituierendes Element dieser Bewegung festzuhalten. Die Überwindung des „alten Systems“, wurde als überkommen und obsolet dargestellt. Diese Überwindung des „alten Systems“ zielte aber nicht auf die Abschaffung der bestehenden, gewaltätigen Verhältnisse durch die Padroni am Arbeitsplatz, die strukturelle Gewalt gegen Frauen, gegen Personen mit anderen oder keinen Geschlechtsidentitäten oder auf die Abschaffung der Polizei ab, sondern versucht eine Restaurierung alter Vor-/Machtstrukturen und Verstärkung der bestehenden Ungleichheiten. Die Ziele der Rechtsextremen sind damals wie heute die gleichen: Sehr sehr vieles für Einige (heute: die niedrigsten Unternehmenssteuern Europas), Brotkrümel für viele (heute: eine demütigend niedrige Grundsicherung, falls sie dich für zugehörig erachten und du in beschämender Armut lebst) und das nackte Elend für den Rest (Kriminalisierung, Illegalisierung samt permanenter Verfolgung durch die Polizei).
Die Futuristen, klarerweise nicht alle, aber viele, wurden ein Dezennium später Faschisten und sahen dort ihre obskuren Ansichten und Ziele verwirklicht. Heutige rechtsextreme Politiken in Europa erinnern in vielerlei Hinsicht an diese historische Episode.
Als zweites historisches Beispiel wird Pier Paolo Pasolini angeführt, dessen Anfang der 1970er-Jahre erschienene Beiträge in Tageszeitungen den Konsumismus als den perfekten Faschismus analysieren. Das Nachkriegswirtschaftswunder, das aus Substituierung der selbst verursachten Kriegsschäden, technologischer Entwicklung und der flächendeckenden Implementierungen der Erdölgesellschaft ventiliert wurde, hatte seinen Zenit überschritten. Der faschistische Angriff des Hedonismus den Pasolini beschreibt, zielt analog zum Futurismus auf die Eliminierung der bürgerlich-liberalen Ordnung ab. Pasolini deshalb, weil er bereits sehr früh nicht nur vor einem Wiedererstarken des Faschismus, damals dem MSI, warnte, sondern auch die ungeheure zerstörerische Wirkung des Kapitalismus auf Gesellschaft und Natur erörterte.
Nicht unwesentlich erscheint, den Futurismus in den Kontext zu anarchistischen Strömungen in jener Zeit zu stellen, Trennlinien und Übereinstimmungen anzudeuten. Mir verfügbare Quellen reduzieren den Futurismus auf kunsthistorische Betrachtungen. Rechtsextreme Gruppierungen in dieser Region benennen den Futurismus aber immer wieder als ideologischen Ursprung, wie beispielsweise die Alleanza Nazionale, deren Protagonist sich selbst als Post-Faschisten bezeichnete. (Friederike Hausmann, Kleine Geschichte Italiens, S. 164)
169 rassistisch motivierte Angriffe auf Personen, die als „fremd“ wahrgenommen würden, fanden in der Region Italien allein während des Wahlkampfs im Frühjahr 2018 statt. Diese Gewalt, von der auch Kinder betroffen waren, wurde auch durch eine Rhetorik des Hasses, der sich Politiker bedienen und ausländerfeindlich motivierte Gesetzgebungen, angeheizt, stellte im Herbst 2018 das UNHCR in einer Stellungnahme fest. Der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte forderte die Regierung …, die Post-Neo-Faschisten krümmten sich vermutlich in ihrem typischen Männerlachen.
Ein Parteiführer und Innenminister, der sich von einer Kriegsreporterin eines Berlusconi-Blattes (Berlusconi war es, der erstmals Neofaschisten in die Regierung holte) eine Biografie schreiben lässt und diese in einem Casa Pound-nahen Verlag herausbringt, dessen Chef sich brüstet Faschist zu sein.
Die Ernennung eines rechten Verschwörungstheoretikers, der davor im gleichen Berlusconi-Blatt wie die Kriegsreporterin arbeitete, zum Chef des staatlichen Fernsehens RAI, dessen Sohn für Social Media-Teams des Inneministers arbeitet.
Ein Senator der 5 Sterne Bewegung, der auf twitter die Protokolle des Weisen von Zion als Beweis für seine antisemitischen Verschwörungstheorien anführt. Wer recherchieren möchte: Sein Name ist Elio Lannutti.
Oder ein Minister der Lega der die Abschaffung des Mancino-Gesetzes aus dem Jahr 1993 fordert, mit dem Anstiftung zu Fremdenhass und die Verherrlichung des Faschismus unter Strafe gestellt wurden (was immer person von diesem Bestrafungssystem halten mag).
Die Liste ist lang, sehr lang.
1.500 schlecht oder überhaupt nicht bezahlte Landarbeiter_innen starben in den letzten sechs Jahren im agrar-industriellen Sektor, der ein Fünftel der Wirtschaftsleistung ausmacht. Sie starben an Erschöpfung, Unfällen oder durch Gewalt. So unterschiedlich ihre Biografien, ihre Geschlechtsidentitäten waren, gemeinsam war ihnen, dass sie als fremd wahrgenommen wurden und aus diesem Grund unmenschlich behandelt werden können.
Gewalt gegen Menschen und das Streben sie zu diffamieren, zu beherrschen, sie auszubeuten und am Ende zu vernichten, sind die Merkmale faschistischer Ideologien. Als Mittel der Kommunikation und Anschlussmöglichkeit wird das Vehikel einer „wir“-Gemeinschaft konstruiert, die von einer großen, dunklen und übermächtigen Gefahr bedroht wird. Der französische Philosph Alain Brossat nennt dies die Umlenkung der Lebenskräfte enttäuschter und betrogener Menschen, deren Leben am Panzerglas der Realität zerschmettert werden, auf Hass und Rachsucht. „Der Faschismus kann heute als eine Maschine zur Erfassung von Affekten und zur Umleitung von Subjektivitäten angesehen werden.“ Aber:
„Das Schaf wird nicht vom Wolf bedroht, sondern von der Person, die das Schaf züchtet, um es auf die Schlachtbank zu bringen.“
https://lundi.am/Penser-le-fascisme-aujourd-hui-par-Alain-Brossat
Alain Brossat
Der Faschismus hat eine lange Geschichte, dessen konstituierendes Element der Hass auf als nicht zu diesem konstruierten Wir zugehörig erachtete Menschen darstellt. Gleichzeitig wird die Illusion erzeugt, das die vorgeblich natürliche und anderen überlegene Gemeinschaft, die innerhalb von adeligen Herrscherhäusern künstlich gezogener Grenzen, eine egalitäre sei, die durch das entworfene Bild des Fremden genuin bedroht werde.
1910 schrieb ein Filippo Marinetti ein Manifest, in dem zu einer Allianz von avantgardistischen Künstler_innen und Arbeiter_innen aufgerufen wird. Ziel sei eine gemeinsame Front, die die Klassengegensätze einebnet, vereint in der Mystik der Revolution und der Nation. Seinen Vorschlag wird Marinetti auch auf der Arbeitsbörse in Neapel vortragen, wo er die Notwendigkeit der Gewalt, durch die erst Schönheit möglich sei, propagiert. In der revolutionär-syndikalistischen Publikation l’Internazionale wird wenige Wochen später Marinetti mit den Worten abgedruckt werden, dass die proletarische Revolution und der nationale Krieg komplementär seien. Gut ein Jahrzehnt später wird Filippo Marinetti seine Ideen in der proto-typischen Partei Fasci italiana di compattimento , der Partei Benito Mussolinis verwirklicht sehen.
„Die Minister von Salvinis Partei, der Lega Nord, versuchen immer wieder, die Rechte der Frauen zu beschneiden. Ihre Politik ist quasi neofaschistisch.“
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1119427.florenz-zu-einer-mentalen-revolution-beitragen.html
Antonella Bundu
Ein Jahr zuvor, 1909, schrieb der F.T. Marinetti ein Manifest, das als Futuristisches Manifest durch seinen Bellizismus, Misogynie (der Hass auf Frauen) und der Begeisterung für die „Schönheit der Geschwindigkeit“ bekannt wurde: „Wir wollen den Krieg verherrlichen — diese einzige Hygiene der Welt -, den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt, und die Verachtung des Weibes.“ Und weiter: „Von Italien aus schleudern wir unser Manifest voll mitreißender und zündender Heftigkeit in die Welt, mit dem wir heute den Futurismus gründen, denn wir wollen dieses Land von dem Krebsgeschwür der Professoren, Archäologen, Fremdenführer und Antiquare befreien.“
Die Region Italien wurde hier von Marinetti als reaktionär-revolutionäre Avantgarde von Männern konstruiert, deren menschenverachtende, bösartige Ideologie und vernebelnde Kritik an „den Eliten“ als neuartig und progressiv umgedeutet wird.
„Kunst kann nur Heftigkeit, Grausamkeit und Ungerechtigkeit sein“
Marinettis Abscheu gegenüber seinen Feinden fehlte ein catchword, also denkte er sich eines aus: Passatist_innen. Damit wurden all jene bezeichnet, mit einer Bewunderung für das nach seiner Ansicht überkommene Vergangene. Bürgerliche Theateraufführungen wurden gestört, Stühle, Steine und andere Gegenstände auf Bühnen geworfen. Die Ablehnung des Passatismus kulminierte in der Forderung nach der totalen Auslöschung alles Altem und Bekanntem. Pazifistische Anarchist_innen lehnten die Verherrlichung der Gewalt ab, andere anarchistische Strömungen den nationalistischen Patriotismus. „Selbst wenn er von Revolution spricht, fokussiert er seine Aufmerksamkeit auf das Phänomen der Gewalt, Gewalt als Selbstzweck, keine revolutionäre Gewalt.“ (zitiert nach Laura Pakieser, I belong only to myself, S. 133)
Die Region Italien war Anfang des 20. Jahrhunderts durch eine relativ starke und diverse anarchistische Bewegung, weit verbreitetes Elend und brutale staatliche Unterdrückung geprägt. Anschläge auf die herrschende Klasse wurden von den Anhängern der insurrektionalistischen Strömung des Anarchismus als notwendige Propaganda der Tat angesehen. Marinetti umwarb in Unsere gemeinsamen Feinde (1910) vergeblich die anarchistische Strömung, die nach Andrea Pakieser damals als soziale und politische Avantgarde wahrgenommen wurde, während der Futurismus die künstlerische Avantgarde repräsentierte.
Der Wunsch das System der Herrschaft einer zu Ende gehenden Epoche zu stürzen war Futurismus und Anarchismus gemeinsam. Renzo Provinciali verfasste 1912 das Manifest Futurismus und Anarchismus, das nach Laura Pakieser als Angriff auf F.T. Marinetti gelesen wird: „Anarchist_innen waren immer überzeugte Futurist_innen und sie werden die zwingende Notwendigkeit erkennen, tief in das futuristische Ideal einzutauchen, wahren Futurismus, frei von Gewaltherrschaft und Ehrgeiz.“
1918 gründete Marinetti die Futuristische Politische Partei. Bereits 1919 sah er seine Ansichten im kommenden Faschismus des gewendeten Sozialisten Mussolinis verwirklicht.
„und dann finde ich die gleichen Leute auf ihren Posten wie vorher halb Faschisten halb Democratiacristiani wie sie sich jetzt nennen seit dem Ende des Krieges sie liegen mir in den Ohren mit ihrem Zeug dass sich alles geändert hat dass es keine Padroni mehr gab und dass die Padroni nichts mehr zum Sagen haben und stattdessen war alles wie früher nur haben sie die Farbe gewechselt von schwarz auf weiss aber sie hatten immer noch ihre Posten gottverdammt“
Nanni Ballestrini, Carbonia
Die erste, wahre Revolution von rechts
titelte Pier Paolo Pasolini einen Aufsatz Anfang der 1970er-Jahre. Pasolini zählte zu dieser Zeit zu den einflussreichsten undogmatisch-marxistischen Intellektuellen, könnte in seiner Verklärung der verschwundenen friulanischen Kultur als Passatist betrachtet werden (jedenfalls war er auch reaktionärer Lebensschützer, bekannte später aber ein, das Recht der Frau auf ihren Körper, zuwenig gesehen zu haben).
„In den Jahren 1970/72 begann eine der gewaltigsten und vielleicht auch endgültigen Restaurationsperioden der Geschichte,“ leitete er seinen Aufsatz ein. Pasolini argumentiert, dass die Rechte begann „in revolutionärer Weise sämtliche überkommene Institutionen – Familie, Kultur, Sprache, Kirche – zu zerschlagen“, während gleichzeitig ebendiese Institutionen gegen die Angriffe von linken Arbeiter_innen und Intellektuellen verteidigt werden. Pasolini sah hier Scheingefechte, die dazu nützen, um im Hintergrund die “ ‚wahre‘ humanistische Tradition“ durch die Phänomene Massenkultur und einem in der Technologie begründeten neuen, auf Jahrhunderte ausgerichteten Verhältnis zwischen Produkt und Konsum zu zerstören. Diese rechte Revolution, die keine Restauration sei, also die Wiederherstellung früherer Verhältnisse, verfolge das Ziel „die Vergangenheit buchstäblich auszulöschen“. „Und die alte frühindustrielle Bourgeoisie macht sich auf, das Feld zu räumen für eine neue Bourgeoisie, die auch für die Arbeiterklasse immer mehr und tieferes Verständnis aufbringt, was schließlich zur Gleichsetzung der Bourgeoisie mit der ganzen Menschheit führt.“
Pasolini, der bereits damals offen schwul lebte, wird heute, wie übrigens auch Antonio Gramsci, von der Neuen Rechten vereinnahmt. Diese blendet dabei aber freilich seine radikale Liebe zu allen Menschen, zur friulanischen Sprache und seine proletarischen Überzeugungen absichtlich aus. Die neuen Heimatschützer des 21. Jahrhunderts wurden im 20. Jahrhundert vom Anarchisten Rudolf Rocker entlarvend charakterisiert: „Dem Nationalismus von heute ist eine solche Liebe völlig fremd“, schreibt er in seinem Werk Nationalismus und Kultur, „und wenn seine Träger um so häufiger davon sprechen, so fühlt man unwillkürlich den falschen Klang und merkt, dass kein inneres Empfinden dahinter steckt. Der Nationalismus von heute schwört nur auf den Staat und brandmarkt die eigenen Volksgenoss_innen als Landesverräter_innen, wenn sie sich den politischen Zielen der nationalen Diktatur widersetzen oder ihren Plänen auch nur ablehnend gegenüber stehen.“
Speed kills – Zur Kontinuität rassistischer und faschistischer Ideologien
Wenn heute die Post-Neo-Faschisten davon reden hundertausende geflüchtete Personen zu deportieren, dann knüpfen sie an eine Erzählung staatlichen Rassismus‘ an, die im kollektiven Gedächtnis verankert ist: Der Flucht von 10.000 aus Durres, Region Albanien,, nach Bari im August 1991. In manchen Berichten ist auch von 20.000 Menschen die Rede. Den Leuten wurde zuerst das Verlassen des verrosteten Kutters Vlora verweigert. Als sich die Lage auf dem Schiff drastisch verschlimmerte, wurde ihnen dies gestattet, der Zutritt zum Hafen aber verweigert. Vor der Erlaubnis das Pier zu betreten, wurden TV-Teams heran gekarrt. Dann trat die Polizei in Aktion und verprügelte vor Hunger, Hitze und Wassermangel Kollabierende. Die Regierung in Rom hatte gewusst, dass diese Gräuelbilder im Fernsehen auch im 80 Kilometer entfernten Albanien gesehen werden konnten. Westliche Eliten zeigten sich tief beeindruckt, wie professionell christdemokratische Politiker „Flüchtlingsabschreckung“ (damals war noch ein wenig Euphemismus nötig und sie nannten es „machiavellistische Lösung„) betreiben und Brüssel äußerte „tiefes Verständnis“ für diesen Akt des Staatsterrors.
Wir werden noch sehen, was alles möglich sei, verlautbart ein Burschenschafter als Präsidentschaftskandidat der Region Österreich. Diese Aussage, kann nicht als Versprechung der Utopie verstanden werden, sondern wurde von sehr vielen als eine nicht namentlich genannte Gegner_innenschaft adressierte Bedrohung verstanden. Unter Schwarz-Blau I war eines der bedrohenden Schlagwörter ein aus der Pop-Kultur vereinnahmtes Speed kills und schloss damit kaum zufällig an die futuristische Glorifizierung von Geschwindigkeit an.
„nach dem Befreiungskampf haben wir mit dem Kampf nicht weitergemacht um zumindest die Grundlagen für den Kommunismus zu schaffen stattdessen 30 Jahre später kommen wir drauf dass es uns immer noch geht wie ’45 eigentlich sind wir jetzt schlechter dran weil damals gab es noch Hoffnung dass sich die Dinge geradewegs ändern könnten und jetzt wenn du keinen entschlossenen Kampf bis zum äussersten machst dann bleiben die Dinge für immer wie sie sind weil die Leute die jetzt an der Macht sind sie sind immer die Gleichen Scheissdreck verdammter und sie wurden tatsächlich noch mächtiger“
Nanni Ballestrini, Carbonia
Egal in welcher Region, rechtsextreme Machthaber betonen bei jeder sich bietenden Gelegenheit, dass es mit der alten Zeit, der von Bürgerlichen so genannten Willkommenskultur, der Bewegungsfreiheit, den linkslinken Feministinnen, dem geplünderten Sozialstaat, den Grundfreiheiten einer liberalen Demokratie, der Mitbestimmung in Betrieben etc. vorbei sei. Die Passatist_innen / sagen sie so nicht / sollten sich warm anziehen. Die rechtsextremisierten Kaderorganisationen verüben wieder Attacken auf Bühnen, verherrlichen und verüben Gewalt gegen als nicht weiß genug gelesene Personen. Angriffe der konservativen Reaktion auf christliche und bürgerliche Hilfsorganisationen, die, obwohl vorausgesetzt werden kann, dass sie die Falschheit ihrer Behauptungen kennen, die sie glauben als Fluchthelfer_innen denunzieren zu können, während Initiativen immer wieder auf die „bürgerlich-konservative“ Kompliz_innenschaft und ihre Übereinstimmungen mit dem rassisierten europäischen Grenzregime verweisen.
Auch in der Region Italien hat diese Komplementarität zwischen und Synergie von Bürgertum und Faschismus ein historisches Vorbild:
In seiner Kurzen Geschichte des Italienischen Faschismus beschreibt Bruno Mantelli die Machtergreifung Mussolinis als Strategie eines konservativen Umsturzes, der die Schlägertruppen der faschistischen Squadre als wichtigen strategischen Teil, der als biederes und anständiges Bürgertum verkleideten Mussolini-Partei verstand und einsetzte. „Gegenrevolutionäre Bestrebungen des modernen Faschismus, der auch heute noch lange nicht überwunden ist“, bezeichnete Rudolf Rocker diese Strategie treffend.
Rocker verfasste mit Nationalismus und Kultur, das auf Grund von Flucht und anderen Umständen 1937 zuerst in Los Angeles und 1949 auf deutsch erschien, eine sehr fundierte philosophische und immer noch gültige Analyse des Faschismus. Mitunter entsteht der Eindruck das zweibändige Werk sei in den letzten Jahren geschrieben worden, wenn er zum Beispiel das Auftreten des faschistischen Staatsphilosophen Giovanni Gentile beim Internationalen Hegelkongress 1931 beschreibt. Gentile hatte dort gefordert, dass dem Staat Kunst, Religion und Philosophie eigentümlich werden müsse“. Rocker beschrieb den politischen und wirtschaftlichen Liberalismus als eines der großen Feindbilder des Faschismus, weil sogar diese „zur Einsicht gelangten, dass der Staat der Bürger_innen wegen da sei“. Oder wenn er über den Antifaschismus der demokratischen Linke notiert: „Allein, die sozialistischen Parteien und die gewerkschaftlichen Organisationen, die von ihrem Geiste getragen sind, haben nicht nur versagt, soweit die wirtschaftliche Umgestaltung der Gesellschaft in Frage kommt, sie haben sich sogar als unfähig erwiesen, das politische Erbe der bürgerlichen Demokratie zu wahren und überall längst erworbene Rechte und Freiheiten kampflos preisgegeben, wodurch der Vormarsch des Faschismus in Europa, wenn auch gegen ihren Willen wesentlich gefördert wurde.“
Eine Gruppe von Personen, die glaubt, sie habe das Recht Personen auszusperren und das Recht über eine andere Gruppe von Personen zu entscheiden.
https://www.theguardian.com/books/2017/jan/06/john-berger-remembered-by-geoff-dyer-olivia-laing-and-ali-smith
John Berger, Was ist Faschismus?
Die post-faschistische Maske ist gefallen
„Sie wollen ungehorsam sein, ich sende nicht die Armee nach Palermo,“ war die Reaktion des Post-Neo-Faschisten in Rom an den Bürgermeister von Palermo, Leoluca Orlando, der ankündigte, sich zu weigern, die rassistischen Salvini-Gesetze umzusetzen. Leoluca Orlando hatte darauf verwiesen, dass für alle Menschen, die in dem Staat Italien leben, die italienische Verfassung gelte. Orlando: „Es gibt tausende, zehntausende Menschen, die sich rechtmäßig in diesem Land aufhalten, Steuern und Abgaben zahlen, die in einigen Wochen durch diese Gesetzgebung illegalisiert werden, zu Sans Papiers gemacht werden.“ Und weiter: „Es ist nicht nur ein ideologisches, sondern auch ein juristisches Problem. Menschen zu Rechtlosen zu machen, mit dem Argument der ‚Sicherheit‘, hat einen rassistischen Beigeschmack. Die post-faschistische Maske ist gefallen.“
Die Kommunen Florenz, Mailand, Parma und Neapel solidarisierten sich mit dem Widerstand Orlandos bzw. kündigten an, sich dem Widerstand anzuschließen.
Aber, wenn auch unter diesen grauenhaften Verhältnissen diese Ankündigung von Kommunen gewürdigt werden muss, kann nicht außer Acht gelassen werden, dass diese „natürliche“ Logik, dass eine mächtige Gruppe von Menschen über den Status von anderen Menschen bestimmen kann, nicht attackiert. Kritisiert wird nur, dass eine „rechtmäßige“ Klasse per Gesetz weiter nach unten, in die Klasse der „Rechtlosen“ verschoben wird. So ernüchternd und überzeugungslos sieht die Vorstellung einer klassenlosen Gesellschaft der Linken in einer Marktdemokratie also aus.
Selbstverständlich hörte in all den Jahren der Klassenkampf nie auf und geht auch heute weiter.
Pier Paolo Pasolini
Die überall zu beobachtende Strategie der heutigen Post-Neo-Faschisten wirkt, als ob die Neue Rechte nach einer Anleitung handeln würde: „Alte“ Strukturen in Frage stellen, Personen, die dieses System angeblich repräsentieren erschüttern und diskreditieren, weiche Ziele lokalisieren und mit Hilfe einer verbündeten Institutionen wie Polizei, Geheimdienste und Justiz zu verdächtigen und zu kriminalisieren. Ein nachvollziehbares Bedrohungsszenario entwerfen, das durch Kooperation mit rechten Medienprodukten, gefüttert und verstärkt wird. Stufe der nächsten Eskalation: Diffamierungen, Verleumdungen, zuerst persönliche Angriffe, später auch medial inszenierte Attacken auf Institutionen. Um nicht den „rechtmäßigen“ und „ideologiefreien“ Eindruck zu gefährden, werden Prozesse gegen politisch Befreundete / Verbundene inszeniert, die entweder geopfert werden oder am Ende als Unschuldige der Öffentlichkeit präsentiert werden. Scharfmacher_innen treiben derweil den rechtsextremen Diskurs voran, von dem sich rechte Proponent_innen halbherzig, widerwillig oder gar nicht distanzieren, weil es sich um aus dem Zusammenhang gerissene Zitate oder bewusster, absichtlicher Falschinterpretation. Wird der öffentliche Druck doch einmal zu groß, wird eine Maßnahme „entschärft“ und stellt sich danach oft als schlimmer heraus als zuvor. Der öffentliche Druck ist aber draußen. Günstig erweist sich ein Set von Maßnahmen zu verfassen. Dadurch wird Kompetenz, Über- und Durchblick signalisiert. Das eventuelle Streichen eines legistischen Vorhabens, gefährdet den Impact des restlichen Sets nicht, es führt aber zur Ablenkung und wird oft übersehen. Die Erfahrung zeigt, dass die finanziellen oder personellen Ressourcen für einen breiter organisierten Widerstand heute oft nicht mehr vorhanden sind bzw. gänzlich fehlen. Dort, wo noch darauf zurückgegriffen werden könnte, fehlt die Bereitschaft weltanschaulich übergreifende Bündnisse zu schließen. Auf lokaler Ebene, werden „Feinde“ identifiziert, persönlich angegriffen, bedroht (Deportationen, Arbeitsplatzverlust, Versetzungen, Benachteiligungen, sozialer Ausschluss bis zu körperlichen Attacken und Angriffen auf Wohnräume, das oft unter dem Schutz der Polizei). Die Polizei dient bekanntlich jedem autoritären Herrn gern.
Rassisten lassen abschieben. Die Bourgeoisie protestiert und freut sich auf Beschäftigte in prekarisierten Jobs. Der Rettungsring für den verlorenen Humanismus: eine abgeschlossene Lehre. Parallel dazu findet eine soziale Erzählung statt: Mindestsicherung für alle, die zu diesem „wir“ gezählt werden, wie in Italien, Kinderförderung für alle, die zu diesem „wir“ gezählt werden, wie in Österreich, auch Immobilienunternehmen, Stiftungen oder große Unternehmen werden zum Teil dieser „sozialen Erzählung“, da in diesem „wir“ niemand mehr benachteiligt wird. Die großen Steuergeschenke, die zur steuerfinanzierten Daseinsvorsorge fehlen (staatliche Pensionen, Bildung, Gesundheit, Infrastruktur), werden zeitlich versetzt und schleichend wirksam (Pensionen, Pflege), führen zu kaum wahrnehmbaren Einschränkungen und Verschlechterungen (fehlende Ausstattungen oder Angebote im Bildungsbereich, keine Operationen / Behandlungen oder Untersuchungen, wegen technischer Möglichkeiten, langer Wartezeiten im Gesundheitsbereich), aufgelassene oder zu Shopping Malls umfunktionierte Bahnhöfe, reduzierte Schneeräumung im Winter, eingestellte und ausgedünnte Öffi-Verbindungen, Totalausfälle im privatisierten Infrastrukturbereich.
In der Fabrik der Verdammten
Um nochmals auf den aktuellen, leider nur auf französisch publizierten Text Nachdenken über den Faschismus heute von Alain Brossat zu kommen. Brossat konstatiert, dass sich den Politiken der Herrschaft, auch progressiv denkende Personen nicht entziehen / können /, daher auch immer unfähiger werden, sich selbst aus dieser tödlichen Gegenwart lösen können, um Neues zu denken und zu erschaffen. Brossat nennt diese Erscheinung des modernen Faschismus, der die Be- und Verhinderung als eine Technik von Regierung mit dem Ziel der Beschlagnahme von Lebenskräften ansieht, die „Fabrik der Verdammten“.
Doch.
Den Ateliers de l’Antémonde gelingt genau das, die Selbst-Extrahierung aus diesen Zuständen und ein Nachdenken wie eine post-revolutionäre Zukunft aussehen könnte. Auf den Spuren von Ursula K. Le Guin entwerfen Personen aus dem Umfeld der antikapitalischen und feministischen Bewegung eine mögliche neue und wünschenswerte Welt und stützen sich dabei auf ihre praktischen Erfahrungen und Werkzeuge, die sie sich in ihren alltäglichen, emanzipatorischen Kämpfen aneigneten. Bâtir aussi / Auch bauen /. Zur Zeit nur französisch, aber mit Download https://antemonde.org/
Vive CellES qui luttent!
Quellen:
Andrea Pakieser
I Belong Only to Myself, The Life and Writings of Leda Rafanelli
AK Press, Oakland, Edinburgh, Baltimore, 2014
https://www.akpress.org/i-belong-only-to-myself.html
Nanni Ballestrini
Carbonia
Samizdat, Wien, 2013.
Rest in Power Nanni!
Friederike Hausmann
Kleine Geschichte Italien
Verlag Klaus Wagenbach, 2006
Rudolf Rocker
Nationalismus und Kultur, Band I
Unruhen Publikationen, Amsterdam, 2015
Verschiedene Ausgaben auch als pdf erhältlich.
Pier Paolo Pasolini
Freibeuterschriften, Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin, 1979
Ateliers de l’Antémonde
Bâtir aussi
Édition Cambourakis, 2018
Die angeführten Bücher sind allesamt Geschenke oder geliehen. An dieser Stelle ein Dankeschön von Herzen euch allen.
Hinweis:
Das als wichtigstes Werk des Futurismus angesehene Bild Das Begräbnis des Anarchisten Galli (Il funeral dell’anarchico Galli) von Carlo Carrà, 1911 kann hier angesehen werden https://en.wikipedia.org/wiki/The_Funeral_of_the_Anarchist_Galli Angelo Galli wurde 1904 in Mailand während eines Streiks von der Polizei ermordet. Carlo Carrà entwickelte später eine Affinität zum Faschismus.
Link zum Weiterlesen:
Faschisten provozieren, Italiens Regierung wiegelt ab https://www.akweb.de/ak_s/ak649/10.htm