Europa verabschiedet sich langsam, sicher und ohne langwierige Diskussionen von seinen großen Werten. Die Zeiten sind umbrüchlerisch geworden und alle möglichen Machtzentren versuchen ihre Ausgangspositionen, für die sich ankündigende digitale Epoche zu verbessern.
Der lange Weg aus der Barbarei
Verkürzt könnte die Französische Revolution als der Startschuss für das moderne Europa bezeichnet werden.
Die Idee der Gleichheit aller Menschen, und damit zwingend die Idee der Solidarität, die in Freiheit und Würde geboren werden, fand 1789 ihre Manifestation als mit Gewalt die Fesseln eines absolutistischen, gottgegebenen Feudalstaates abgeworfen wurden.
Es brauchte noch einmal hundert Jahre bis diese grundlegenden Rechte jedes Menschen in die Gesetzgebungen und Verfassungen als Briefgeheimnis, allgemeines, geheimes Wahlrecht, Gleichstellungs- und existenzsichernde Arbeitsrechte formal konstituiert wurden. Die Revolutionsjahre Mitte des 19. Jahrhunderts und der 1. Weltkrieg mussten die herrschenden Eliten fundamental destabilisieren, um diesen radikalen Paradigmenwechsel zum allgemeinen gesellschaftlichen Durchbruch zu verhelfen.
Danach folgten Jahre heftiger Spekulationen mit den damit erzwungenen Krisen, großer Not und Hunger für die 99 Prozent und mörderischem Reichtum für die 1 Prozent. Mit dem Börsencrash 1929, dem beinahe unzählige Bankencrashs in Österreich vorausgingen – mit der Creditanstalt vertschüsste sich die bedeutendste Bank Mitteleuropas ins Finanznirwana – erfasste die Krise nicht mehr nur die Kinderarbeiter_innen, die Arbeitslosen und die Tagelöhner_innen oder das Industrieproletariat, sondern weite Teile der Gesellschaft, die 99 Prozent. Die Krisen hatten nun den Drive für eine Superkrise, den 2. Weltkrieg.
Nachdem die Diktaturen, pseudodemokratischen Regimes und gewählten Regierungen, die halbe Welt gründlich in Schutt und Asche legten, wurde wieder aufgebaut, was es davor bereits gab: Wohnungen, Schulen, Spitäler, Fabriken und selbstverständlich Gotteshäuser. Die Trümmerfrauen, die davor ihre Kinder in den Krieg schickten, feierten sich und ihre verbliebene Sippe und nachdem sie verstarben, ehren sie die nachfolgenden Generationen. Über die Trümmermänner sprach man lieber nicht. Sie verarbeiteten ihren Beitrag zum Massenmord, indem sie das Land stillheimlich mit an Geschichtsfälschung erinnernden Kriegerdenkmälern überzogen, auf denen alle Toten und alle Verbrechen gleich gemacht werden, als ob es nicht eindeutige Aggressoren gegeben hätte.
Um den Widerstand der Deserteur_innen im 2. Weltkrieg heute mit einem Denkmal zu würdigen, scheint die Fläche Wiens zu klein zu sein – es findet sich kein Plätzchen.
2012 sind Argumentationsmuster wie Deserteur_innen der verbrecherischen deutschen Wehrmacht sind selbst Kriminelle, weil sie sich einem Rechtsstaat widersetzten, wie sie der österreichische Kameradschaftsbund jüngst kundtat, noch immer möglich. Oder sollte es besser heißen: schon wieder möglich?
Befinden wir uns auf dem kürzesten Weg in eine Neue Barbarei?
Kurz nur, am zu Ende gehenden 20. Jahrhunderts, schien sich, global betrachtet, die Erdkugel von ihrer historischen Schieflage aufzurichten. In Lateinamerika fielen reihenweise die Militärregimes, in Südafrika entledigten sich die 99 Prozent ihrer Unterdrücker_innen, im Mittleren Osten schienen ernsthafte Friedensgespräche möglich, die UdSSR beendeten ihr imperialistisches Abenteuer in Afghanistan und sahen ihre Macht in einem zeitgeistigen Oligarchiekonstrukt besser abgesichert, als in einem ideologisch abgewirtschafteten Staatskapitalismusmodell.
Dazwischen kam der argentinisch-britische Krieg um einige Quadratmeter Felsen im Südatlantik. Für beide Kriegsführer_innen (Militärs auf der einen, den Neoliberalen auf der anderen Seite) ein willkommener Anlass alte Diktatorenweisheiten auszugraben: Wer den inneren Feind besiegen will, braucht einen äußeren Feind. Und schon taumeln begeistert die mit nationalistischen Parolen aufgeladenen Massen, Schwarmdebilität sozusagen. Der britische Bergarbeiter_innenstreik, ging verloren. Die europäischen Sozialdemokrat_innen, die sich mit den Streikenden nie zu solidarisieren vermochten, überliessen die ideologische Deutungshohheit den anderen. Der neoliberale Umbau in Europa konnte starten und der Grundstein dazu wurde konsequent im Stil eines kolonialistischen Kriegsabenteuers nahe dem südlichen Polarkreis gelegt.
Es folgte eine lange Reihe punktueller militärischer Attacken und Interventionen angeführt von den zwischenzeitlich christlichfundamental transformierten und technologisch hochgerüsteten USA, vorwiegend in den instabilen und medial unterbelichteten geopolitischen Randregionen. Die digitale Revolution in der Kriegsführung hatte weitgehend von der Öffentlichkeit unbemerkt begonnen. Und selbst nach den tagtäglichen Tötungen durch ferngesteuerte Drohnen im Mittleren Osten, bleiben zivilgesellschaftliche Initiativen, die den militärisch-polizeilichen bzw. in zunehmendem Maß privaten Drohneneinsatz in US-amerikanischen Städten wegen der Gefährdung der Privatsphäre begrenzen möchten, ein Randthema.
Politik der Angst
Wenn es den „Islamisten“ nicht gäbe, man müsste ihn glatt erfinden.
Ein Einzeltäter, dessen Taten weder bewiesen noch seine Motive bekannt sind, reichen aus, um die Grande Nation, in ihrem Selbstverständnis die Hüterin der Werte der Französischen Revolution, die Einschränkung der Medienfreiheit zu fordern. Ein Einzeltäter, dessen antimuslimische, christlichfundamentale und antiaufklärerische Gesinnung evident ist, dessen vermutete Täterschaft nicht nur auf Indizien beruht, hat genau keine Konsequenzen. Und das verwundert auch nicht: Wer den Wahnsinn von Breivik wegkratzt, landet schnell bei der Geisteshaltung deutscher Banker_innen…
Mitten in der Gesellschaft
Bis Ende des 20. Jahrhunderts funktionierte die Verortung politischer Radikalismen. Der Ursprung des Koordinatensystems lag in der Mitte der Gesellschaft. Links der Mitte die Sozialdemokratie, Rechts der Mitte die Volks- bzw. Christparteien, noch weiter links linkere Gruppierungen und rechts der Konservativen, die Liberalen und reaktionäre Gruppen. Die Bedeutung von Würde und Anstand einte die damaligen Zentrumsparteien und bildete den sozialen Nenner der damaligen Gesellschaften.
Das Koordinatensystem hat sich verschoben und die Akteur_innen in ihm. Thilo Sarrazin ist in der Mitte. Aber er ist nicht in der Mitte angekommen, die Mitte ist auch nicht zu ihm gewandert. Sarrazin und seines/ihresgleichen haben die Mitte neu gemacht. „Nicht ich bin radikaler geworden, sondern die Umstände sind es,“ zitiert die aktuelle WOZ den konservativen Regierungschef Kataloniens Jordi Pujol i Soley (1980-2003).
Derartige tektonische Bruchlinien in der Mitte der europäischen Gesellschaften, sind die Voraussetzungen für heftige politische Eruptionen und soziale Tsunamis.
Die Hegemonie der Niedertracht
Die seismischen Vorboten können gemessen werden. Bürger_innen, die vor zehn oder fünfzehn Jahren noch als Held_innen der Zivilcourage gefeiert worden wären, müssen sich heute vor Strafgerichten verantworten.
Da sich aber immer noch genügend Menschen in der Mitte der Gesellschaft wähnen, während die tektonischen Platten längst weiter verschoben wurden, muss ein Generalverdacht erhoben werden. Massenüberwachung von Handys der GegnerInnen (!) des Dresdner Neonazi-Aufmarsches. Die Weitergabe personenbezogener Daten von Verdächtigen(!) von Europa an die USA oder die massenhafte Verletzung des Bankgeheimnisses dienen als Beispiel für eine inzwischen übliche und tolerierte Praxis.
Oder die jüngste Veröffentlichung, dass die US-amerikanische Regierung Daten Verdächtiger weiter speichern will, auch wenn sich heraus stellen sollte, dass die Verdächtigten Unverdächtigte sind, weil sie später doch noch verdächtigt werden könnten.
Der Verdacht liegt nahe, dass der Rechtsstaat, wie ihn die westlichen Demokratien bislang kannten, systematisch organisatorisch und personell umgebaut wurde und weiter substantiell ausgehöhlt wird.
If you have no secrets, you have no life (secushare.org)
Totalüberwachung ist IMHO auch eine Form der Folter, egal, ob wer etwas zu verstecken hat. Die Heimlichkeits-Liste wird täglich länger, während umgekehrt proportional die erlaubten Aktivitäten -gefühlt- stündlich geschrumpft werden.
Durften wir früher Bücher auf Flohmärkten selbstverständlich kaufen und verkaufen, darf heutzutage eine digitale Kopie nicht mal verschenkt werden, insbesondere dann nicht, wenn mit dem Erwerb nur das Recht auf die persönliche Nutzung erworben wurde. Klar, wer von nichts Eigentümer ist, kann nicht schenken oder verborgen.
Und so wurde mit dem Eintritt ins digitale Zeitalter in ihrer totalen Globalität nicht der Anfang einer Alles-Gratis-Kultur gesetzt, sondern der Eintritt in eine universelle kapitalistische Enteignung vollzogen.
Du sollst kein Betriebssystem neben meinem verehren
Oder die Enteignung der Hardware: Aus angeblichen Sicherheitserwägungen wird User_innen der kommenden Windows 8-Version die parallele Installation eines alternativen Betriebssystems unmöglich gemacht. Smartphone-User_innen werden bei iOS an eigene Stores gekettet, Android-User_innen wird die Kontrolle über ihre Handys in absoluter Totalität entzogen, Updates zurückgenommen, neu aufgespielt, wie Google gerade lustig ist. Welche Apps gerade welche private Daten wohin senden, können außerordentlich Neugierige analysieren, aber dennoch nicht beeinflussen. Aus Google-Sicht nicht unbedingt ein Nachteil: Wenn das Android-Gerät, berichtet die Zeitschrift c’t, das Geräusch von Regenprasseln aufschnappt, wird das nächstgelegene Regenschirmgeschäft automatisch eingeblendet. Praktisch. Don’t be evil eben!
Per Deep Packet Inspection, die freilich kein Telekom-Anbieter durchführt, kann geprüft werden, was mit dem Phone gerade gemacht wird, und eine Verbindung über ein VoIP-Protokoll wird deswegen logischerweise blockiert, weil es das eigene Geschäftsmodell erheblich gefährdet. Auch deswegen bedarf es einer Aufhebung der Netzneutralität. Eine weitere kapitalistische Landnahme.
In Österreich tritt mit 1. April die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung in Kraft. Die Initiative AK-Vorrat hat dagegen eine elektronische Bürgerinitiative im österreichischen Parlament eingereicht, die bislang von 81.266 Personen unterstützt wurde. Der zuständige Ausschuss für Petitionen und Bürgerinitiativen wird von Frau Ursula Haubner geleitet, eine ihrer Stellvertreter_innen ist Dr. Susanne Winter Unterzeichner_innen dieser Petition, die „der Abbildung der politischen Interessenlage“ dient, können versichert sein, dass ihre persönlichen Daten gut aufgehoben sind.
Die grundsätzliche Frage muss gestattet sein, was in einer offenen, pluralen Staatsform schief läuft, wenn die Regierungen denen, von denen sie gewählt wurden, derart misstrauen und sie potenziell und generell jedes grausamen Verbrechens fähig halten?
Oder scheint nach hundert Jahren Rosa Luxemburg wieder einmal recht zu behalten, als sie postulierte, dass es nur die Entscheidung zwischen Sozialismus oder Barbarei gäbe?
Vielleicht sollte sich die herrschende Elite entscheiden, ob sie stabile Friedhofsruhe wollen oder das Risiko Leben wagen wollen und vielleicht sollten wir uns ernsthaft überlegen, ob wir eine verordnete Friedhofsruhe wünschen.
„Durch Ruhe und Ordnung kann die Demokratie ebenso gefährdet werden wie durch Unruhe und Unordnung.“
Hildegard Hamm-Brücher